Das Schicksal der Anderen

Gestern wachte ich kurz nach 6 Uhr auf. Schnell war klar, dass ich nicht noch einmal  einschlafen konnte. Also schnappte ich mir den Brötchenbeutel und machte mich auf zu unserem Haus- & Hofbäcker.
Es war ein klarer, sonniger Morgen. Die Vögel zwitscherten. Kein Auto fuhr. Die Welt war friedlich und ich nahezu allein unterwegs. An der Bäckerei war ich nicht mehr die Einzige - eine Schlange von gut 15 Leuten stand schon davor.
Auf dem Rückweg war es schon nicht mehr ganz so ruhig...

Plötzlich riss mich ein Schrei aus meinen Gedanken! Eine junge Frau rief aus dem Erdgeschoss. 'Ob ich ein Handy dabei hätte...?! Ich solle sofort die Polizei rufen! Er hätte sie schon wieder geschlagen...'
'Ich fragte sie, ob sie aus der Wohnung raus könne?' Sie rief: 'Nein, er hätte abgeschlossen und den Schlüssel behalten.' Ich rief ihr zu, sie solle am Fenster bleiben.' Dann wählte ich den Notruf. Ich schilderte Anliegen und Anschrift und versicherte, dass ich bis zum Eintreffen der Polizei bei der jungen Frau bleiben würde.
Ich ging zu ihr ans Fenster und versuchte sie zu beruhigen. Ich hatte ein wenig Angst, sie könnte umkippen, da sie extrem aufgeregt war. Sie befand sich zwar im Erdgeschoss - jedoch Hochparterre, wie man so schön sagt. Sie kam schlecht raus aus der Wohnung und ich nicht zu ihr.
Während ich mit ihr sprach, wurde sie etwas ruhiger, weinte jedoch nach wie vor und war sehr verängstigt. Plötzlich wurde ich von schräg hinten angepöbelt: "Nee, sie haben jetzt nicht die Polizei angerufen, oder?!? Sind sie total bescheuert???" "Nicht für die da. Die zieht hier jede Woche so eine Show ab. Die Bullen sind jede Woche hier. Wenn man der da helfen will, lässt sie es nicht zu, dann liegt sie wieder stockbesoffen in ihrer Bude rum..." Hinterher flogen noch einige Flüche und anderes... Leider lies sie sich auf diese Diskussion ein und begann dem Typen noch hinterher zu rufen...! Auf meine mehrmalige Aufforderung hin, ging er endlich weiter, was auch gut so war, denn mittlerweile war wohl auch mein Puls weit über 180. Ich begriff, dass hier offenbar ein ganzer Problemcocktail vorlag. 'Ja, es stimmt, was er sagt. Sie trinke regelmäßig Alkohol. Aber nur, weil es ihr so schlecht geht. Ihr Freund schlägt sie immer wieder und haut dann jedes Mal ab. Aber dieses Mal will sie ihn wirklich anzeigen.' Ich fragte sie vorsichtig, ob sie Hilfe hat. Ja, eine Betreuerin habe sie...
Nach einer Weile wurden wir wieder angesprochen. Diesmal von einer Frau, ob sie helfen könne. Diese Worte waren beruhigende Wohltat, nach den Pöbeleien des ersten Passanten, der offenbar auch nicht alkoholsuchtfrei war. Ich dankte ihr und informierte sie, dass gleich Hilfe da wäre und ich solange bei ihr bleiben würde.
Nach einigen, weiteren Minuten trafen 2 Polizisten ein. Die kannten die junge Frau offenbar schon von vorherigen Besuchen. 'Ob sie wieder Anzeige erstatten und dann zurück ziehen wolle...?!' Und: 'Sie solle den Typen nicht immer wieder in die Wohnung hinein lassen...' etc.pp Ich vermute mal, dass dies alles andere als einfach für sie ist, dieses einfach-nicht-mehr-reinlassen. Zwischen den Beiden scheint in irgendeiner Form ein Abhängigkeitsverhältnis zu bestehen. Offensichtlich brauchten beide professionelle Hilfe. Der Mann und die Frau...
Die Polizisten übernahmen also und ich verabschiedete mich von der Frau am Fenster.

Dann ging ich heim. Heim zu meiner ganz normalen Familie, die noch mit den Nasen in den Kissen steckte. Habe ich Probleme? So gesehen nein.
Es geht mir gut. Ich jammere auf hohem Niveau. Ich habe gar keinen Grund, mich schlecht zu fühlen. Ich schäme mich furchtbar. Da ist wieder dieses ich-nehme-den-Anderen-etwas-weg-was-sie-dringender-als-ich-bräuchten-Gefühl. Wissend, dass das  nicht stimmt. Auch sie kann an ihrem Leben ja etwas ändern. Sich um einen Therapieplatz bemühen. Einen Entzug machen. Mit professioneller Hilfe eine klare Grenze zwischen sich und ihrem Lebenspartner ziehen, der sie immer wieder schlägt. Sich damit aus Süchten und Abhängigkeiten befreien... Kein leichter Weg, aber auch kein unmöglicher.

Nachdenklich bleibe ich trotzdem. Setze daheim den Brötchenbeutel ab und ziehe mich zurück in eine ruhige, dunkle Ecke. Über das soeben Erlebte sprechen kann ich nicht. Aufschreiben? Geht auch nicht. So sitze ich. Fühle..?!? Ich schäme mich nur. Aber Scham ist ja auch schon ein Gefühl.

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