Lieber K.
Es ist nun um die 30 Jahre her, dass wir zusammen waren. Von '94 bis '96 waren wir ein Paar. Als wir uns kennen lernten, warst Du 19 und ich 17 Jahre alt. Zwei Jahre und wenige Wochen später, trennten sich unsere Wege wieder. Das heißt, Du hast diese Wege getrennt, weil Du es verständlicher Weise nicht mehr ausgehalten hast.
Die ganze Zeit über war unser Zusammensein nicht gern gesehen, ja kaum geduldet(!), von meinen Eltern. Sie mochten Dich nicht, lehnten Dich ab. Meine Mutter sagte "hässlicher Vogel" zu Dir. ...dass hat uns Beide verletzt.
Wenn wir uns treffen konnten, dann immer nur bei Dir oder eben irgendwo in der Stadt. Manchmal trafen wir uns heimlich und hatten dabei stets viel Angst, entdeckt zu werden.
Flucht, mit den Eltern brechen, ganz und gar zu Dir stehen... all das konnte ich damals noch nicht. Zu gering waren meine Kraft und mein Mut.
Nun ist meine Tochter 19 geworden. Sie ist nun so alt, wie ich damals war... als wir noch etwa 8 gemeinsame Monate vor uns hatten. Meist konnten wir uns ab Samstagnachmittag treffen. Dann waren wir knapp 12h zusammen, bevor Du mich wieder nach Hause brachtest. In diese 12 Stunden musste so ziemlich ALLES rein passen: Kuscheln, mit Freunden Essen gehen, ins Kino, einen Ausflug machen, sich Sorgen und Nöte anvertrauen, Pläne schmieden, neue Hoffnung schöpfen... Viel zu viel für zu wenig Zeit. Unter der Woche durften wir uns meist nicht sehen und auch am Sonntag nur manchmal. Dann musste ich obendrein um 19 Uhr zum Abendessen daheim sein! Weil ja Montag früh zeitig die neue Woche startet.
Meine Tochter verbringt schon seit langem die Wochenenden mit ihrem Freund zusammen. Montags war er meistens hier - manchmal auch über Nacht...
Vor 4 Tagen ist er sogar bei uns eingezogen. Ungefähr 2 Wochen lang werden sie hier gemeinsam wohnen, bevor sie ihre erste, gemeinsame Wohnung beziehen. An ihrem Geburtstag haben wir dem Vermieter zugesagt. In der Woche darauf wurde der Mietvertrag unterschrieben. Gestern haben die Beiden ihre eigene Bude genau ausgemessen, um die Einrichtung besser planen zu können. Ab Mitte des Monats können sie einziehen...
Was hätten wir Beide schon alleine dafür gegeben, dass ich öfter hätte bei Dir schlafen können!!!?!!! Mit etwas gutem Willen, hättest Du auch bei mir in der elterlichen 3-Rwhg. mit übernachten können. Bei Dir war deutlich mehr Platz.
Jedoch war Beides oft verboten. Einmal wurden wir sogar erwischt... Meine Eltern waren zu Besuch bei Freunden und Du bist zu mir nach Hause gekommen, falls sie anrufen, damit ich ans Telefon gehen kann. Wir haben ziemlich brav auf dem Sofa aneinander geschmiegt einen Film angeschaut. Dann kamen meine Eltern unverhofft viel zeitiger heim, als gedacht - weißt Du noch? Mein Vater hatte Zahnschmerzen bekommen. Hei, gab das einen Riesenärger!
Später sagte meine Mutter oft; >Ich hätte mit Dir zusammen bleiben dürfen. Sie hätten Dich sehr willkommen geheißen und gemocht. Ich hätte dann von mir aus nicht mehr zu Dir gewollt. Du hättest Dir zu wenig Zeit für mich genommen.<
Heute sagt man Gaslighting zu solch einem Verhalten. Es bringt Menschen dazu, an ihren ureigens erlebten Geschehnissen ernsthaft zu zweifeln.
Manchmal frage ich mich ernsthaft, wer mehr spinnt: Ich oder meine Mutter (also von ihr stammen diese Aussagen - mein Vater schweigt)?!
Vieles, was wir uns erträumt hatten, durften wir nicht gemeinsam erleben... Aber meine Tochter darf es! Erst hat sie von viel gemeinsamer Zeit mit ihrem Freund geträumt und dann durfte sie die auch erleben. Dann haben die Beiden noch weiter geträumt: Wie es wohl wäre, zusammen zu ziehen? Wie würden sie sich ihre Wohnung einrichten? (Manchmal sind sie mehr zum Spaß einfach durch Möbelhaus getingelt, um sich imaginär einzurichten.)
Nun ist es soweit: Sie werden in 10 Tagen in eine kleine 2-Rwhg. unweit von unserem Zuhause ziehen. Sie werden ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wenn sie Fragen haben oder Hilfe brauchen, dann unterstützen wir sie dabei.
Und - wir (also mein Mann und ich) freuen uns für die Beiden. ♡
Schon seit etlichen Jahren hast Du eine feste Partnerin. Ich wünsche mir, dass ihr glücklich seid. Ich wünsche mir, dass all diese alten Sachen über die Jahre von Dir abgefallen sind und dass auch Du Deinem Sohn einen freien und guten Start ins Erwachsenenleben ermöglichen konntest.
Pass gut auf Dich und die Deinen auf.
Liebe Grüße
😉