Verlassener Vater

Er (88 Jahre): "...dort auf dem Brett im Wohnzimmer habe ich all meine selbst gedrechselten Weihnachtsfiguren stehen. Alle samt! Aber was wird mal mit denen, wenn meine Frau und ich nicht mehr sind? Landen sie dann auf dem Müll? Mein Sohn wirft sie bestimmt nur weg..."

Ich will gerade einhaken. Habe mehrere, rettende Ideen im Kopf, wie aufbewahren, ebay, weiter verschenken...

Er: "Mein Sohn hat schon ewig keinen Kontakt mehr zu uns. Seine große Tochter, unsere Enkelin, würde sich vielleicht darum kümmern. Ich weiß es nicht. Sie wohnt jedoch weit weg von uns. Unsere jüngere Enkelin hat auch mit uns gebrochen. Wir haben schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Die ganze Familie ist zerstört - total kaputt... Aber - egal, lassen wir das nun..." 

Dieses Mal offenbare ich mich keinesfalls. Innerlich getroffen von dem, was ich gerade erfahren habe, bleibe ich zurück. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, weswegen mein Gegenüber heute eigentlich einen Termin bei mir hat. 
Es gelingt mir halbwegs...
Zwischenrein denke ich immer wieder, ob ich Offenbarungen dieser Art gerade magisch anziehe oder ob ich mittlerweile nur bessere Antennen dafür habe?! 
Haben mir nicht immer wieder ältere Kunden versteckt mitgeteilt, dass sie einsam sind, weil die Kinder weit weg wohnen, so selten vorbei kommen, zuviel zu tun haben... Oder eben: Den Kontakt abgebrochen haben!?! So offen will das nur kaum jemand zugeben.

Später kam er nochmal darauf zurück: Der Figurendrechsler war, wie viele verlassenen Eltern, der Meinung, sie hätten doch alles Erdenkliche für Kind und Enkel getan. Alles! Und nun diese Undankbarkeit in der höchsten Form - der Kontaktabbruch!

Erst jetzt, wo ich mich intensiv mit damit auseinander setzen muss, stelle ich fest, wie massiv diese Thematik unsere gesamte  Gesellschaft durchzieht. Ich arbeite seit über 22 Jahren mit vorwiegend älteren Menschen, aber erst jetzt wird mir das so nachdrücklich bewusst.
Einerseits ziehe ich den Hut vor dieser Generation, welche oft nach größten Verlusten und Traumatisierungen im wahrsten Sinne des Wortes "aus Scheisse Gold" machen musste! Die Meisten von ihnen haben wirklich und wahrhaftig das Beste gegeben, was sie hatten. Daher verstehen sie auch die scheinbar undankbare Nachkommenschaft nicht. Aber DAS, was sie getan haben und geben konnten, hat eben oft einfach nicht ausgereicht. Verursacht durch einen oder gar beide Weltkriege entstand dieser Mangel und wurde weiter gereicht, wie ein Kelch, aus dem ein Jeder der Reihe nach trinkt. Ein Kelch, welcher gefüllt ist mit Härte, emotionaler Taubheit und Kälte, Unnachgiebigkeit, Kummer und sehr viel Schmerz...

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