Erwachen mit Schrecken

Immer wieder fahre ich den bogenförmigen Kratzer auf der schwarzen Kunststoffkappe mit dem Daumennagel nach. Diese Kappe gehört zu dem orange bezogenen Küchenstuhl aus Edelstahlrohr auf dem ich mich zusammen gekauert habe. Der Kratzer in der schwarzen Kappe scheint immer tiefer zu werden. Sehen kann ich ihn längst schon nicht mehr. Ich fühle ihn nur noch.
Immer wieder laufen mir die Tränen übers Gesicht. Es will gar nicht wieder aufhören! Und immer wieder fahre ich diesen winzigen Bogen entlang, als könnte ich irgendeinen Halt darin finden. Denn halten tut mich hier nichts und niemand mehr!
Eigentlich mag ich diesen Platz in unserer Wohnung. Direkt neben meinem Küchenstuhl verläuft ein Heizungsrohr und auch der Heizkörper ist keine Armlänge entfernt. Im Winter ist es hier gemütlich warm. So manche Stunde habe ich hier lesend verbracht. Rechts neben mir auf der Anrichte die Keksdose und ein Glas Wasser, vor mir ein spannendes Buch. Eine Ecke an der Zierleiste der Anrichte ist abgebrochen. Nur schimmernd nehme ich diesen Makel durch meinen Tränenschleier hindurch wahr.
In der Wohnung ist es totenstill. Keiner sagt etwas. Niemand nimmt mich in den Arm, um mich zu trösten. Jeder ist gerade nur für sich. Meine Mutter. Mein Vater. Ich. Ich spüre neben all der Trauer Endlichkeit. Als ob jetzt alles zu Ende ist. Für immer.
   Gegen 8 Uhr wachte ich heute auf. Es ist ein Samstagmorgen. Als ich meine Zimmertür öffnete, erschrak ich. Der Wohnungsschlüssel drehte sich hörbar im Schloss. Wer kommt denn um diese Zeit mit Schlüssel in unsere Wohnung hinein? Erstaunt bemerke ich, dass es meine Mutter ist. War sie etwa beim Bäcker!? Das ist ungewöhnlich. Oder war sie die ganze Nacht gar nicht daheim gewesen?! Meine Mutter war ganz anders als sonst: Irgendwie still und verschlossen. Ich ging ihr hinterher in die Küche. Fragte sie irgend etwas. Keine Antwort. Nach einiger Zeit erklärte sie mir in knappen Worten, dass sie sich von meinem Vater - ihrem Mann - trennen wird. "Das kannst Du doch nicht machen!", entgegnete ich. Doch sie beteuerte, dass ihr Entschluss feststeht. Nicht mehr und nicht weniger.
Nichts.
Sie sprach nicht weiter mit mir.
Blieb einfach still und stumm.
Nahm mich nicht in den Arm.
Beantwortete keine meiner Fragen.
Ich setzte mich auf meinen Küchenstuhl und lies die Tränen laufen. Sie waren an diesem Morgen das einzig Warme in unserer Wohnung. Salzige Tränen in ungeheurer Menge.
Inzwischen war auch mein Vater erwacht und aufgestanden. Er sagte ebenfalls nichts. Er schien schon zu wissen, worum es ging. Auch ihm stellte ich Fragen. Mehr als ein leises Knurren bekam ich nicht zur Antwort. Halt oder Trost gab auch er mir nicht.
Ich beschloss, ein Meer zu weinen. Ein riesig-großes, trotziges Meer. Ja, einen ganzen Ozean wollte ich zusammenweinen! Wenn meine Eltern DAS nicht möchten, sollen sie doch bitteschön meine Eltern bleiben...

Es folgten kalte, wortarme Wochen. Das Schweigen war eisig in dieser Zeit und die wenigen Worte, die gesprochen wurden, zerschlugen die Stille, wie Peitschenhiebe.
Viel bunter schwappte das Leben aus dem Fernseher heraus. Menschen saßen auf der Berliner Mauer und jubelten. Wildfremde nahmen sich weinend in die Arme und fuhren in hupenden Autokorsos durch die Stadt.
Die Neugier auf einen aufregend-neuen Lebensabschnitt verwischte die grauen Spuren der letzten Wochen. Auch meinen Eltern schien das so zu gehen. Meine Mutter vergaß sich zu trennen und auszuziehen. Mein Vater war offenbar froh, dass sie blieb. Ich traute dem Frieden noch nicht ganz, obwohl sie mir gegenüber versicherten, sie hätten über alles gesprochen und es sei wieder gut.


Ohne Zweifel bescherte der Wendesommer und -herbst 1989 vielen Menschen in der DDR turbulente Wochen. Nicht nur uns. Manche flüchteten in Nacht- und Nebelaktionen. Andere ließen gar ihre Kinder zurück, in der Annahme, die Ausreise in die BRD würde dann einfacher werden. Die Menschen zwischen Erfurt und Rostock waren nicht nur urplötzlich befreit - sie waren gleichsam auch entwurzelt. Wie die Welle einer mächtigen Detonation lief die Wende durch unsere kleine Heimat DDR.

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