Verlassenes Kind...

Der Wecker klingelt. Ich drücke den Taster, um das nervige Gepiepe abzuschalten. Aber ich bin hellwach! Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Auf nackten Füßen tappe ich durch den Flur. Dort hängt meine "Tafel" - es ist genau aufgezeichnet, was ich zu welcher Uhrzeit tun muss, um pünktlich in der Schule zu sein. Lauter kleine Bildchen - dazu die passende Zeigerstellung an der Uhr. Mutti und Vati sind schon zur Arbeit gefahren.

Den ganzen Sommer über haben meine Eltern versucht, mir das Ablesen der Uhrzeit beizubringen. Aber ich habe mich zu dumm angestellt: halb, dreiviertel, viertel, um. "Um" habe ich verstanden - da ist der große Zeiger oben. Bei "halb" ist er unten. Aber wie war das dann mit dem kleinen Zeiger? Viertel und dreiviertel vertausche ich immer. Es sind nur Wörter ohne Bedeutung für mich.
Sogar eine Uhr mit Wackelaugen bekam ich zu meinem 6. Geburtstag geschenkt. Das Armband ist gelb... Sie gefällt mir. Doch das Lesen der Uhrzeit habe ich deshalb nicht schneller verstanden. Den ganzen Sommer über hieß es: "Wie spät ist es?" Ich starrte lange auf die Uhr und wusste die Antwort nicht. Irgendwann zuckte ich immer bei dieser Frage zusammen.

Sei es drum: nun hängt eben diese Papptafel im Flur und die sagt mir, was ich tun soll. Die Wohnung ist leise, still und leer. Während ich Zähne putze, freue ich mich auf die Deutschstunde. Ich kenne schon viele Buchstaben und kann schon die meisten Wörter lesen. In meiner Fibel habe ich mich schon bis Seite 34 vorgearbeitet. Die meisten anderen Kinder mühen sich noch mit "Omi ist im Haus." oder "Oh, Mimi!" ab.
Das Frühstück lasse ich aus. Ich habe einfach keinen Appetit. Als ich gewaschen und angezogen bin, packe ich noch die Brotdose in meinen Ranzen, ziehe die Wohnungstür hinter mir zu und laufe los. Weit habe ich es nicht!
Nach der Schule spielen wir im Hort. Seilspringen. Mehrere Seile sind zu einem langen Seil zusammen geknotet. Bis zu 5 Mädchen hüpfen in Reihe durch das schwingende Seil. Wer hängen bleibt, muss raus. Wer zuletzt übrig bleibt, gewinnt. Meist bleibe ich zu früh hängen... Langsam leert sich der Hof. Die ersten Spielsachen werden in den Schuppen geräumt. Als ich geholfen habe, einige Bälle wegzuräumen, darf auch ich gehen.
Ich habe es ja nicht weit!
Im nu bin ich im sechsten Stock angekommen. Noch ist niemand daheim. In die Wohnung kann ich jedoch nicht. Ich kann die Tür nicht allein aufschließen - der Schlüssel lässt sich zu schwer im Schloss drehen. So sitze ich auf der obersten Treppenstufe. Ich hole die Fibel aus meinem Ranzen. Erwartungsvoll schlage ich sie auf. Heute ist Seite 35 dran! Mal sehen, wie viele Seiten ich schaffe, bis Mutti oder Vati daheim sind...

...

Ein paar Monate später haben soeben die Winterferien begonnen. Ich brauche morgens nur meinen Rucksack mit der Brotdose und der Teeflasche mitzunehmen. Längst habe ich mich daran gewöhnt, dass mich morgens niemand in den Tag begleitet und die Wohnung leer ist. Auch die Papptafel mit den Bildern brauche ich nicht mehr. Ich trete auf die Straße. Der Tag ist frisch und klar. Er fühlt sich irgendwie neu an und besonders. Oder bin ich es selbst?
Am Vormittag spielen wir drinnen im Hort. Einige Kinder basteln. Ein paar Mädchen spielen Vater-Mutter-Kind. Die Bauecke und die Autos sind mal wieder von den Jungs besetzt. Gelangweilt schiebe ich mich von einer Stelle im Raum zur nächsten.
Irgendetwas stimmt mit diesem Tag nicht... Ich gehe zur Erzieherin: "Welches Datum ist heute eigentlich?" Mit einem erstaunt-fragenden Blick nennt sie es mir. Siedend heiß zischt die Antwort durch meinen Körper - einmal der Länge nach hindurch. Ich bedanke mich leise.

Es ist mein 7. Geburtstag.

Niemand war heute morgen bei mir. Niemand hat mir gratuliert - weder im Hort, noch daheim. Nicht mal ein klitzekleines Geschenk oder eine Süßigkeit stand daheim bereit...
Ich bin traurig. Zugleich schäme ich mich.
Alle möglichen Gefühle stöbern, wie bei einem Schneesturm in mir durcheinander!
Haben sie meinen Geburtstag vergessen?
Haben sie mich nicht mehr lieb?
War ich denn so ungezogen im letzten Jahr?  ...ich kaue auf meiner Unterlippe herum...
Was habe ich falsch gemacht...?
Mein Kopf liefert zig Gründe: Meine Bausteine waren nicht weggeräumt, in meiner ersten Mathearbeit hatte ich eine 4(!), gestern war ich vorlaut und vor ein paar Tagen hatte ich beim Zu-Bett-Gehen gebummelt...
Ich fühle mich allein... Leer... Kalt...
Verlassen.
Was habe ich falsch gemacht???

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