Die alte Villa

So war es dort

Wenn man von unserem Neubaugebiet diese kleine Straße in Richtung des alten Dorfkerns ging, kam man direkt zu ihr. Die alte Villa, die meinen Kindergarten beherbergte.

Auf der rechten Seite der Straße stand sie. Später als Jugendliche, war ich noch einmal dort: ich hatte sie viel schöner in Erinnerung, fast wie ein altes Schloss. Tatsächlich ist das Gebäude viel "sachlicher". Der mittlere, straßenseitige Raum hatte immerhin einen kleinen Erker...
Es gab 4 Gruppenräume - drei im Erdgeschoss und oben im Dachgeschoss waren die Vorschüler.
Noch schöner als die alte Villa, war der riesige Garten auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Straße: schätzungsweise  3000qm Gartengrundstück. Es gab verschiedene Obstbäume, Gemüsebeete, Beerensträucher. Wir hatten 2 große Sandkästen, einen kleinen Rodelberg, ein Klettergerüst, eine Schaukel, ein kleines, steinernes Badebecken und einen Wassersprenger, den wir immer "Regenbogen - ungezogen" nannten. Genau genommen ein Paradies - zumindest von den Voraussetzungen her.

Milch

Habt Ihr schon mal Milch abgekocht? Dabei verändert sie deutlich ihren Geruch und ihren Geschmack. Während sie stark erhitzt einen süßen Geschmack bekommt, schmeckt sie nach dem Kochen einfach nur noch widerlich.
Jeden Morgen zum Frühstück gab es abgekochte Milch. Viele Kinder tranken sie auch. Aber einige Kinder ekelten sich sehr davor. Ich gehörte dazu. Schon allein die Haut obendrauf! Oft war die Milch noch so heiß, dass sich ein zweites Mal Haut bildete.
Ich stellte mir vor, dass die Milch heute bestimmt besser schmecken würde. *winziger Schluck* Leider nein - so schlimm wie jeden Morgen. Ich sollte die Milch trotzdem trinken. Die anderen beiden Kinder auch. M. probierte es. Einen Moment später stand er auf und erbrach alles auf den Fußboden. "Geschafft!", für heute war er vom Milchtrinken befreit. Blieben noch 2 Kinder - S. und ich. Als S. seine Tasse irgendwie ausgetrunken hatte, zwang ich mich auch - Augen zu und rein damit...
So ging das jeden Morgen aufs Neue. Wir versuchten das Austrinken zu umgehen. "Dann bleibt ihr bis zum Mittag sitzen!" Der Gruppenraum war längst leer. Die anderen spielten schon im Garten. M. saß wenigstens nur vor einer Vierteltasse Milch. Da er jeden Morgen die Milch wieder erbrach, waren es die Erzieherinnen leid, jedes Mal alles wieder weg zu wischen. Wir saßen - wir saßen sehr lange. Irgendwann schaffte es immer wieder jeder von uns, den Inhalt der Tasse hinab zu würgen - jeden Morgen aufs Neue...

Fatale Reime

Wir gingen ab und zu spazieren. Immer in Zweierreihen, Hand in Hand, hinter einander. Die Spaziergänge waren langweilig - alles Lustige war verboten: auf dem Bordstein balancieren, mit Steinchen Fußball spielen, Pfützen springen, laut herum kaspern, zurück bleiben, voraus rennen - rennen überhaupt!
Einmal begann ich zu reimen. Benutzte immer andere Vokale. Ich freute mich, denn bald war der Spaziergang vorbei. Wir waren schon fast wieder an der alten Villa... Ich reimte auch auf den letzten paar Metern laut und melodisch vor mich hin - leider hatte ich den Nachnamen meiner Erzieherin dazu benutzt. Am Eingang der Villa riss sie mich plötzlich aus der Reihe, packte mich schmerzhaft-fest an den Oberarmen und schüttelte mich grob durch. Während dessen brüllte sie mich an, dass die Spuckefetzten nur so flogen. Zum Schluss knallte sie mich rücklings gegen die Hauswand.

Räucherkerzchen

Wenn die Vorweihnachtszeit kam, freute ich mich sehr. Geschmückte Fenster, Kerzenlicht, Tannengrün, bunte Plätzchen, Weihnachtslieder...
Leider gehörte auch der Duft von Räucherkerzchen dazu. Die grünen waren gerade noch erträglich. Schlimm waren für mich die schwarzen Räucherkerzchen: ich bekam davon Panikattacken. Mein Herz raste wie wild... Weg, nur weg von diesem Geruch! Wurde daheim oder bei Oma eines angezündet, ging ich einfach in ein anderes Zimmer.
Im Kindergarten wollte ich auch den Raum verlassen. Ein strenges "Nein!" gebot es mir, an der Kaffeetafel sitzen zu bleiben. Ich hatte einfach enorme Angst vor diesem Geruch. Ich atmete ganz flach. Versuchte mir den Pulloverärmel vor Mund und Nase zu halten. Blieb sitzen - wie versteinert. Wartete ab, bis Geruch und Panik sich endlich verzogen...

Resümee

Als Kind ging ich mit den Bedingungen so gut um, wie es mir möglich war. Ich kannte es ja nicht anders. Ein paar schöne Erinnerungen gehören auch dazu - der letzte Kindergartentag vor der Einschulung zum Beispiel, das Rodeln auf dem kleinen Berg oder wie wir im Sommer quiekend unter dem "Regenbogen ungezogen" lang rannten.
Dennoch wurde immer wieder versucht mit psychischem Druck gezielt zu manipulieren, zu strafen und auszugrenzen. An Lob erinnere ich mich ebenso wenig, wie an Trost.
Unsere damalige Erzieherinnenriege war für die Betreuung von Kindern schlicht ungeeignet. Mit meiner Gruppenerzieherin hatte ich leider auch noch den "harten" Hund in der Runde erwischt.
Verstanden hatte ich das erst als Erwachsene: ich sah, wie liebevoll die Erzieherinnen mit meinen Kindern umgingen. Eine Kundin, welche Erzieherin gewesen war, reflektierte mir, dass es auch zu DDR-Zeiten durchaus anders und liebevoll im Kindergarten zugehen konnte.

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