Zahnpastacoaching vs. Realität

Letzte Woche war in der Welt am Sonntag ein sehr befreiender Artikel über die "Branche der Lifecoacher", also über Menschen, die ganze Hallen füllen, um uns dort für unzivilisiert viel Geld zu erklären, wie wir es besser machen sollen.


Meine Tochter und ich haben einmal grob überschlagen, dass an so einem Abend mit voll gefüllter Halle schon mal eine 7-stellige Summe verdient werden kann. Kein Wunder, bei über 400 freiwilligen Helfern, die keinen müden Cent für ihre Leistungen haben wollen! Das bißchen Hallenmiete...
Schon auf der Homepage preisen sie meist ihre Seminare mit ihrem Zahnpastalächeln an (daher: Zahnpastacoaching!). Unsere Gedanken machen uns zu dem, was wir sind. Klar! Egal, was uns im Leben geschieht - wir selbst allein haben Anteil daran. Auch an Verbrechen!?!

Was mich wirklich ärgert ist, dass aus der Not der Menschen Geld gedruckt wird. Natürlich ist es schwer zuzugeben, dass man ein Problem hat, dass es schlauer wäre, eine Therapie bei einem guten Therapeuten zu beginnen... Man fühlt sich ja auch nicht krank im Sinne von krank. Man hat da ja nur so ein Problem.
Außerdem weiß dann noch die Krankenkasse davon. Das Nächste ist, einen guten Therapeuten zu finden, der zumindest gewillt ist, einen nach dem Kennenlernen auf eine Warteliste zu setzen.
Also Coaching, durch irgend jemanden, der irgendwas bei wiederum irgend jemandem gelernt hat?!? Und das auch noch für unglaublich viel Zaster! Es gibt wohl kaum etwas, wo Geld noch leichtfertiger ausgegeben wird...

Der Zahnpastacoach sorgt noch vor dem Betreten der Eventhalle dafür, dass man all seine Rechte abgibt. Man muss schriftlich bestätigen, dass man keine psychische Erkrankung hat. Kann man das? (Ich hätte mir das selbst vor 5 Jahren auch bestätigt.) Ist man in der Halle, gibt es erstmal Party: Musik dröhnt rhytmisch aus den Boxen, Nebelmaschinen vernebeln die Sinne und die Massen werden in Ekstase gebracht - es wird genau der Hormoncocktail im Körper erzeugt, den der Zahnpastacoach für seine Show benötigt, um zumindest die breite Menge gefügig zu machen. (Die anderen ziehen dann schon mit.)
Tritt der Maestro auf die Bühne, gibt es kein Halten mehr. Die Menschenmenge tobt - transformiert sich zu einer positiv-denkenden, rotgesichtig-erhitzten Meute.
Die Regeln werden gleich zu Beginn festgemacht: Kein Verlassen des Saales, um zur Toilette zu gehen. Kaum Pause. Die Show geht stundenlang - letztenendes wird hier sogar mit Schlafentzug gearbeitet! (Nur der Maestro selbst ruht sich zwischendrin aus - er braucht seinen Schlaf.) Inzwischen halten seine 400 unentgeltlichen Helferlein die Masse am kochen! So eine Party aber auch...
Zwischendrin werden "Auserwählte" auf die Bühne zitiert. Dort werden sie bewusst erniedrigt, gedemütigt und dazu gezwungen, eigene erlebte Traumata vor allen preis zu geben. Sie können auf dieser Bühne da oben nichts richtig machen! Sie machen genau das für die Menge, was der Zahnpastacoach von ihnen will - sie werden instrumentalisiert für die Zwecke seiner Show. (Eigentlich müssten sie ihr Geld zurück erhalten für diese unmenschliche Dienstleistung und die gleiche Summe als Entschädigung nochmal obendrauf!)

...Einige der Besucher brechen auf dem Heimweg völlig erschöpft zusammen oder sind im schlimmsten Falle traumatisiert oder sogar retraumatisiert.
Für mich ist das ganz klar Körperverletzung und damit illegal, was da getrieben wird. Nur ist es schwer nachweisbar.

Ich nenne hier bewusst keine Namen und weiß aus Erzählungen anderer: Mindestens ein weißes Schaf existiert unter vielen Schwarzen. Warum? Findet jener einen Beleg für etwas, was nicht in ein Coaching gehört, erklärt er dies dem Betroffenen in Ruhe und legt ihm therapeutische Hife nahe.

VERSUS (versprochen ist versporchen)

Realität: Jene, die ein "echtes" Problem(e) haben, welches nicht einfach mit Coaching zu meistern ist,  können dieser Zahnpastalächeln-Methode einfach nichts abgewinnen. Sie ist quasi selbst verletzend! Wir können unsere Schwierigkeiten nicht weglächeln. Wir können auch nicht einfach Schlußstriche ziehen, weil das ja alles schon sooo lange her ist. Es ist präsent. Jeden Tag! Es quält uns Tag und Nacht. Ein Schlußstrich bedeutet wieder wegzusehen, so wie wir es schon Jahrzehnte ausprobiert haben. Es hat nicht funktioniert - oder nur zeitweise und hat uns damit noch mehr an den Rand gebracht.
Wir müssen genau das Gegenteil tun: Wir brauchen gute Therapeuten und Begleiter, die sich trauen mit uns gemeinsam genau hinzuschauen, nach zu bearbeiten und auszuleben, was nicht sein durfte oder einfach nicht statt fand. Es muss ein Aufräumen, Fühlen und Sortieren möglich werden. Erst wenn alles angeschaut ist und einen neuen Platz erhalten hat (also weitgehend integriert wurde) können wir zum letzten Schritt gehen: Den Stift zur Hand nehmen, um den Schlußstrich unter eine Episode zu ziehen.
Das alles braucht Zeit - viel Zeit - und vorallem Mut.

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