Warum erst jetzt?!? Ein Erklärungsversuch...

Ein absoluter Klassiker, wie er im Buche steht! Ganz weit oben in den Top-Ten-Listen der Fragen, welche Betroffene ganz besonders "mögen"...
Erst neulich begegnete mir diese Frage wieder in einem Chat, welcher diskutierte, ob Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch abgeschafft werden sollten oder nicht.

Warum erst jetzt?,

fragte mich gestern auch meine liebe Freundin K.A., jedoch in einem ganz anderen Kontext. Warum ich meine kleine Mannschaft jetzt erst so wahr nehmen kann? Ob sie früher schon spürbar waren oder ob sie einfach irgendwann für mich vom Himmel fielen?!?
Weder / noch - hier ein Erklärungsversuch, welcher vielleicht beide Fragen anschaulich erläutern kann:

Es war "Beides" in meinem Bewusstsein immer da: Der Missbrauch (& alle anderen Traumata) und auch mein "System" zeigte sich rückblickend betrachtet recht früh.
Den Missbrauch selbst habe ich mal mit einer Ladung Beerenobst verglichen, welche eingefroren wurde. Man sieht noch, dass es dunkle Beeren sind, erkennt jedoch nicht, welche Sorte. Heidelbeeren? Schwarze Johannisbeeren? Kleine dunkle Kullern eben. Ohne die Ladung aufzutauen, lässt sich das nicht heraus finden. Das bedeutet im Umkehrschluss: So lange, wie alles eingefroren ist, kommt man nicht bewusst heran. Und muss es auch nicht! Oft hält so ein frostiges Päckchen jahrelang ohne Probleme zu bereiten.
Mein "System" war ja normal für mich. Ich nahm an, dass alle anderen auch so sind und sah darin nichts Besonderes. Ich projizierte schon ab ca. 11 Jahren eine gewisse "Mutterrolle" auf andere Frauen und empfand übergroßen Verlust bei "Kontaktabbruch". Nicht Schlimmes! Bei weitem nicht - ein abgesagtes Treffen konnte mich in bitterliche Tränen und Verzweiflung stürzen, nicht nur in einfache, kurze Enttäuschung, wie es wohl normal gewesen wäre... Irgendwann im Jugendalter kam mir der Gedanke, dass meine Reaktionen da doch etwas über das Ziel hinaus schossen... Aber: Weiß der Geier, was das ist und woher das kommt???

Zumal sich der Zustand zwischen dem 23. und dem 35. Geburtstag nochmal für ein reichliches Lebensjahrzehnt gut stabilisiert hatte. Ich war zufrieden, stabil, leistungsfähig... Unterstützend zum Empfinden kann ich das rückblickend an ganz kleinen Dingen festmachen - in dieser Zeit hatte ich 1(!) sehr konstante Handschrift und nicht mehrere, wie heute. (nur als "sichtbares" Bsp.)

Als die Kinder etwas älter und selbstständiger wurden, begann meine Stabilität ganz allmählich zu zerbröseln. Nach dem Ende einer Freundschaft (Kontaktabbruch!), brach alles zusammen: Die Dekompensationsphase* begann und die Wechsel im System zeigten sich nun deutlich wahrnehmbar in mir. Aber ich hatte nach wie vor keinen Namen für das, was da passierte und hätte es auch nicht in Worte packen können.

Das Trauma gilt es Stück für Stück zu bearbeiten und neu in die Biographie einzuordnen.
Die Ego State Disorder jedoch bleibt. Ich kann nur lernen, im Alltag besser mit meiner kleinen Mannschaft auszukommen. Verbesserung der Innenkommunikation, Absprachen treffen, Verlässlichkeiten für alle schaffen sind dabei Therapieziele. Abgesehen von Traumapäckchen, die mich nach wie vor hinterrücks mitten ins Genick treffen, wenn ich es am wenigsten erwarte, gilt es täglich auch das pure Chaos in diesem Flohzirkus zu managen, den ich ja nun mal 24/7 dabei habe. Das verpulvert ungeheure Mengen Energie!
Denkt Euch, ihr habt im Alltag immer folgende Kinder bei Euch: ein Neugeborenes, welches zwar viel schläft, aber auch Eure ständige Nähe und Fürsorge braucht - noch ein älteres Baby vielleicht, es mag herum krabbeln und die Welt entdecken - noch eine Spur anstrengender vielleicht, jener Zwerg, der gerade laufen kann - ein entdeckerfreudiges Kleinkind - ein quirliges Vorschulkind mit Bewegungsdrang - ein Grundschulkind mit 1000 wissbegierigen Fragen - ein Kind an der Schwelle zur Pupertät (so 12 Jahre - mein ANP - also ihr selbst - heillos überfordert mit allem) - ein jüngerer und ein älterer Jugendliche(r) dann noch dazu (picklig, maulig, genervt, müde) und sehr an einem generellen Ausbruch aus allem interessiert...
Nun: Konzentriert Euch auf Eure Arbeit! Auf ein Gespräch! Auf die Hausarbeit! Auf einen Einkauf! Wer dabei schonmal in Großfamilie unterwegs war, weiß nur zu gut, wie anstrengend das ist...
Manchmal besteht die eine oder andere sehr vehement auf ihren Wunsch. Der Druck wird dann immens groß; ähnlich, wie bei Süchtigen (so meine Vermutung), die ihre nächste Ration brauchen. Die Eine WILL JETZT MALEN! Als Durchschnittserwachsener malt manch einer von Euch sicher auch gerne, kann aber jederzeit damit aufhören. Wir nicht! Die Malerin besteht unverhandelbar (bislang zumindest!) auf ihr Tun. Ein Nichterfüllen dieses Bedürfnisses erzeugt enorme Spannungen. So kommt es immer wieder dazu, dass wir die Dinge, welche wir eigentlich erledigen wollen, nicht schaffen oder gar nicht erst beginnen...

Erst jetzt, wo das Trauma entpackt ist - einfach nicht mehr fern gehalten werden kann - zeigen sich auch die Himbeersplitter in ihrer vollen Ausprägung. 
Alle waren beteiligt beim Überleben. Wir haben es zusammen geschafft. Wir sind so da, wie wir sind, weil anders nicht zu überleben war, was wir erlebt haben.
Wir sind in Ordnung, wie wir sind. 😉 Wir müssen "nur" noch besser zusammen arbeiten...

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Erl.:

*Dekompensationsphase ist jene, in der das Trauma "entpackt" wird. Erinnerungen kommen beginnend als Bilder hoch und schließen sich zu ganzen Filmsequenzen zusammen. Die gefürchteten Flashbacks sind da!
Das kann langsam oder plötzlich geschehen. Es werden einem Tatsachen bewusst, an die man zT. Jahrzehnte nicht gedacht hat.

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