Ich wiege nichts.


(Foto: Steingeschichten)


Ich war heute bei meiner Hausärztin. Warum steht volkstümlich das "Haus" davor? Ins Haus kommt da keiner mehr, wenn er-sie nicht muss. Aber das ist auch nicht mein Wunsch... 
Allgemeinarzt (Allgemeinärztin) ist für alles und nix zuständig?!?
    Ich brauchte ein neues Rezept, also war ich heute Morgen dort. Die Praxis war sommerlich - entspannt leer. Ich wurde gleich hinein gebeten. Ein Bluttest müsste mal wieder gemacht werden. Und ich sprach auch an, dass wg. der SSRI-Einnahme mal wieder ein Kurzzeit-EKG gebraucht wird. Das wurde sofort gemacht, die Blutabnahme fürs Labor auf den September terminiert. "Schauen sie mal in ihren Dienstkalender, wie das mal morgens nüchtern passen würde." Ähm - im Innen: Ich gehe gar nicht arbeiten derzeit, bin arbeitsunfähig.. Sollten wir ihr das nicht das nicht sagen? Ich trau mich nicht - mach Du. Nee, mach Du doch. Wieso ich? Vielleicht fragt sie ja noch nach, wie es uns sonst so geht? Denkst Du? Ich glaube nicht. Aber sie wird wieder ärgerlich, wenn wir ihr das mit der Krankschreibung nicht sagen. Sie wird auch ärgerlich, wenn wir ihr das sagen! *schweigen* 
Was ist da los? Vor 4 Jahren wechselten wir vom "alten" Hausarzt zu ihr. Wir brauchten einfach eine Ärztin - konnten mit unseren geöffneten Themenpaketen nicht mehr zu einem Mann gehen. Bei der Auswahl der Praxis waren große Ansprüche nicht an der Tagesordnung. Wohnortnahe Praxen nehmen leider seit Jahren keine PatientInnen mehr an. Meine "neue" Ärztin ist Anfang 60 und hat ein super Terminmanagement. Ich habe dort noch nie länger als eine halbe Stunde warten müssen. Aufs Erste und fürs Allgemeine ist sie freundlich und offen. In Grundsatzfragen, wie zB. zum Impfen stimmen wir überein. Aber die Feinheiten - sie nimmt uns nicht wahr... 
Als wir im Herbst in AU gingen und berichteten, wie es dazu kam, hörte sie aufmerksam zu aber kommentierte abschließend mit "Suchen sie sich sehr bald eine neue Arbeitsstelle." Da ging mir auf: Sie hatte fast nichts verstanden, von dem, was wir gerade erzählt hatten. Sie hatte wohl begriffen, dass die Situation belastend war, aber nicht, welche Konsequenzen daraus resultierten und das es nicht einfach nur eine neue Arbeitsstelle braucht. 
Ich versuchte ihren Blickwinkel dazu zu verstehen. Heute gelang mir das wahrscheinlich ein wenig. Die Praxis liegt im EG eines Pflegeheimes. Sie betreut alle Bewohner des Hauses, so sie nicht auf eigenen Wunsch einen anderen Allgemeinarzt benennen. Damit betreut sie eine Generation, die den 2. Weltkrieg mitgemacht hat. Menschen, die mehrfach traumatisiert wurden, hungerten, Unvorstellbares erlebten, geliebte Menschen verloren, froren und in der Not jeden Tag aus "Scheisse" Gold machen mussten. Sie funktionierten trotzdem - ein Leben lang! Arbeiteten hart und lange, hatten Entbehrungen jeglicher Art. Manch gingen humpelnd oder gebückt durchs Leben. Bei Vielen hat sich das Über-Leben tief in tief in Körper, Seele und Gesichtszüge eingegraben. Jeder dieser alten Menschen ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Oft genug habe ich das in den vergangenen Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit erleben dürfen. All das zusammen genommen: Wiegt schwer.
Ich hingegen bin im Frieden aufgewachsen, in Sicherheit. Ich musste nicht frieren und nicht hungern. Ich hatte ein Dach über dem Kopf und für alles war weitgehend gesorgt. Meine seelische Not ergibt bestenfalls Befindlichkeiten. Das, was ich habe ist nicht nur nicht zu sehen, es wiegt auch nichts. Das wurde mir heute morgen klar, als ich aus der Praxis wieder heraus war. Es hat gar nicht so sehr etwas mit ihr persönlich zu tun, sondern mit dem Standpunkt, von dem sie auf das Geschehen schaut.
Im Verstand ist klar, dass da enorm große Not war, auch wenn ich versorgt war: Gefüttert, gebadet, gewickelt - aber nicht geliebt und umsorgt. 

Natürlich frage ich mich, ob dass, was ich zu meiner Allgemeinärztin habe, ein "Vertrauensverhältnis" ist, wenn ich ihr nicht einmal gestehen kann, dass ich seit Sep. 2019 AU bin.  ???  Der Pool an Lösungen ist überschaubar, nach wie vor nehmen die meisten Praxen keine neuen PatientInnen an.
 

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