Lasst Hören

Durch eine Otosklerose (Verkalkung der Gehörknöchelchen im Mittelohr, insbesondere der Steigbügelfußplatte, welche den Schall ans Innenohr überträgt) auf der rechten Seite habe ich seit ca. 2 Jahren einen leichten bis mittleren Hörverlust. Vorbote war ein breitbandiges Rauschen, welches im Spätsommer 2016 einsetzte. Es rauscht auch heute noch. Seit etlichen Monaten gesellt sich aber noch ein besonders unangenehmer Effekt dazu, ähnlich einem Pumpen oder Flattern. Am ehesten kann man es damit vergleichen, wenn man mit geöffnetem Seitenfenster an einer Reihe parkender Autos vorbeifährt. Dabei kommt es in rascher Abfolge zu einem Ansteigen und Abfallen des Schallpegels. Auf Dauer: Ekelhaft hoch 10! 
Die Idee meiner behandelnden HNO-Ärztin war dazu folgende: Das Gehirn registriert durch den Schallleitungsverlust eine geringere Schallaufnahme von der rechten Seite und gibt quasi 'Anweisung' dies durch eine stärkere Mitarbeit des Innenohres auszugleichen. 
Beschäftigt man sich näher mit der Anatomie unseres Innenohres (der 'Hörschnecke' also), fällt auf, dass sie einen aktiven Verstärker enthält. Ein Teil der Haarsinneszellen, welche den mechanischen Schall in ein elektrisches Signal umwandeln, berühren mit ihren Spitzen eine Deckmembran. Registrieren sie einen Reiz, erfolgt über den Reflexbogen im Nervensystem eine aktive Reizverstärkung, indem sich diese Haarsinneszellen zusammen ziehen und die Deckmembran deutlicher auslenken. Dieser Verstärker arbeitet vorallem bei leiseren Pegeln bis etwa 45/50 dB, welches leisem Flüstern entspricht.

Foppt micht also mein rechtes Innenohr?!?
Wie bringen wir ihm Manieren bei?

Da ich selber von Fach bin und nach wie vor dicht an der Quelle sitze, komme ich natürlich schnell, unkompliziert und passend an eine entsprechende Ausstattung zur Ausprobe.


Es ist ein Hörsystem aus dem unteren, mittleren Preissegment, aber es wartet schon mit einer Menge Tools auf, für die man vor ein paar Jahren noch den Wert eines einfachen Kleinwagens hingelegt hätte.
Via Bluetooth könnnen nicht nur Lautstärke, Hörprgramme, Höhen, Tiefen, Mitten, Störschallunterdrückung und Zoom via App geregelt werden. Es kann auch gestreamt und telefoniert werden und zwar ohne Zusatzgerät. Die Technik vernascht den Strom dazu wahlweise aus einem integrierten Akku oder aus einer 312-er Zink-Luft-Batterie.

Mitte der 1990-er habe ich meine Ausbildung in der Hörakustik begonnen. Damit kann ich - nicht ohne Stolz! - sagen, dass ich eine der wichtigsten Zeitepochen in der Hörakustik hautnah verfolgen durfte.
Zu Lehrbeginn prägten noch zahlreiche Taschenhörgeräte aus DDR-Zeiten, sowie übergroße HdO-geräte (Hinter-dem-Ohr) aus selbiger Zeit das Bild. Aber auch die kleineren Geräte von westlichen Firmen, welche eine höhere Zuzahlung bedeuteten waren kaum kleiner, als die heutigen 'Kassengeräte' (also zuzahlungsfreie).
Bei den Einstellmöglichkeiten am Gerät selbst, sah es nicht besser aus: Oft standen 2-3 Trimmer zur Verfügung, um das Hören angenehmer einzustellen. König Kunde selbst hatte nur einen Lautstärkesteller und einen Ausschalter zur Verfügung. So konnten wir Akustiker die Ausgangskurve oft nur über Tonblenden, Verstärkungsvoreinstellung und einfache Ausgangsbegrenzungen regeln. Mehr als 4 Trimmer gab es praktisch nie. Außerdem war es ein wahrer Hype an einem einfachen Automatikgerät immerhin den sogenannten Kniepunkt einstellen zu können (also den Eingangspegel, ab dem das Hörgerät mit der Pegelkompression beginnen soll).
Erste programmierbare Geräte kamen auf den Markt. Die Hersteller entwarfen dazu eigene, kleine 'Programmierkästchen' samt zugehöriger Kabel und Adapter. Was sich dann auf der Programmieroberfläche wiederfand, war oft nicht mehr, als es auf einem gut ausgestatteten Trimmergerät (also herkömmlich) gab. Doch 1995 war ein wichtiges Jahr. Vielleicht das wichtigste überhaupt. Ein lauter, wenn auch unhörbarer, Startschuss leitete das digitale Zeitalter der Hörakustik endgültig ein. Die Hersteller hatten sich endlich auf die gemeinsame Programmierplattform NOAH geeinigt, welche unter Windows 95 startete. Damit wurde der Schrank mit den ganzen 'Kästchen' schon mal ein gutes Stück leerer. Verblieben noch Unmengen an Kabeln und Adaptern, welche der Branche auch noch gut 20 Jahre die Treue halten sollten. Auf der Messe 95 wurden damals auch die ersten beiden volldigitalen HdO-geräte vorgestellt: Oticon brachte das Digifocus auf den Markt und Widex das Senso. Beide Fabrikate überschwemmten den Markt förmlich trotz ihres hohen Preises. Digifocus machte sich super an den Ohren, welchen glasklare Sprachschärfe wichtig war und Senso an jenen, welche natürlichere Klänge bevorzugten.
Der Rat eines Akustikers an seinen frisch versorgten Kunden lautete bis dato: Tragen sie ihr neues Gerät erstmal stundenweise zu Hause, machen sie dann Spaziergänge in ruhigeren Straßen, bevor sie sich in die laute Welt hinein wagen.
Nun konnte man den frisch verwanzten Hörfreund mit zur Ladentüre auf die Hauptstraße hinaus nehmen und es passierte fast NICHTS! "Eigentlich ganz angenehm.", sagten die Meisten und hatten sich das Hören im Lärm viel schlimmer vorgestellt.
Über die Jahre folgten viele weitere Hersteller mit volldigitalen Hörsystemen, welche nun zu Recht Hörsysteme waren und keine reinen Hörgeräte mehr. Herausragende Techniken wurden bezahlbarer, bis schlussendlich auch die rein kassenfinanzierten Versorgungen davon profitierten.

Mit anderen Worten, vor der 'Diagnose Hörgerät' muss heute niemand mehr Panik schieben oder sich blöd damit vorkommen. Es gibt fast jede Lösung zu haben; und auch fast alle davon sind bezahlbar.
Und: Man sieht fast nix! Hier mein verwanztes Ohr:



Von vorn, schräg oder der Seite sieht man praktisch nichts. Im unteren, hinteren Teil der Ohrmuschel liegt ein Abstützfaden, welcher dem Herauswandern beim Kieferbewegungen entgegenwirkt.
Vom Gehörgang aus nach oben verläuft ein nahezu unsichtbares Hörerkabel zum Gerät (hinterm Ohr). Im Gehörgang selbst parkt der Hörer (aber der hört nicht :-)  sondern ist natürlich der Lautsprecher!). Damit er es schön bequem hat im Gehörgang, trägt er ein weiches Hütchen. (Das ist der graue Kegel auf dem ersten Foto.)


Hier habe ich nochmal in einem anderen Winkel fotografiert, so das der kleine Rechenzwerg dahinter sichtbar wird. Nach der Ausprobe kann man sich eine andere Farbe wählen. Es gibt verschiedene Grau- oder Brauntöne, die zum Haar passen oder manchmal auch flippige Farben, wie türkis, pink oder himmelblau. (finde ich ja cooler!)
Früher waren Hörgeräte vorallem beige - fleischfarben - von uns Akustikern schlicht "Schnitzel hinterm Ohr" getauft. Grässlich!

So, nun hoffe ich, dass Euch der kleine Ausflug in meine jahrelange Berufswelt gefallen hat und bin gespannt, ob es der Technik gelingt mein spinnendes Gehör auszutricksen.


 --------------------------------------------

Noch auf ein Wort:

Wenn Ihr Euch mit dem Gedanken tragt, Euch ein Hörsystem zuzulegen, dann wählt Euren anpassenden Akustiker sehr sorgfältig aus! Er wird Euch über viele Jahre lang viel enger begleiten, als es vielleicht ein Augenoptiker tut. Ein guter Akustiker macht ein ausführliches Vorgespräch und eine ordentlich Beratung anhand Eures Hörverlustes. Er begleitet Euch und macht Euch zum Experten Eures eigenen Gehörs. Er schwatzt Euch nichts auf und drängt Euch auch nicht, jetzt "endlich mal" einen Abschluss zu machen. Er lässt Euch in Ruhe verschiedene Geräte ausprobieren und geht auf Eure Wünsche und Bedürfnisse ein.
Dennoch sind Akustiker natürlich keine Zauberer - es gibt manchmal Dinge, die sich nicht umsetzen lassen. Am Ende der Erprobung und damit direkt vorm Abschluss der Versorgung solltet Ihr in den meisten Hörsituationen des Tages gut zurecht kommen. Wenn Ihr Euer Hörsystem am Ohr schon zeitweise 'vergesst', dann ist es gut geworden...  ;-)



Beliebte Posts aus diesem Blog

Arbeit mit EMDR (4-Felder-Technik)

Die Baumübung

Ich