Eine Geschichte

Der Abend war ruhig und kühl. Hin und wieder kräuselte eine Windböe das Wasser auf dem Fluss. In der Ferne lärmte noch der Verkehr. Ich lief immer weiter den Weg zwischen Bahndamm und Fluss entlang. Das Licht der Straßenlaternen vom gegenüberliegenden Ufer reichte gerade so für eine diffuse Ausleuchtung meines Weges. Doch er war eben. Keinerlei Stolperfallen waren zu befürchten.
Einige Enten schnatterten am Ufer ihr beruhigendes Abendgebet...
   Plötzlich knackte es neben mir im Gehölz und dann schnaufte es. Unweit von mir stand ein stattliches, schwarzes Ross mit seidig glänzendem Fell. Ein Mann saß auf seinem Rücken im Sattel. Er hatte langes Haar, trug historische Kleidung und sah sich verwundert um. Eine Armbewegung und ein leises, schleifendes Geräusch verriet mir, dass er sein Schwert vorsichtig heraus zog. Da entdeckte er mich. Erstarrt blieb ich auf der Stelle, wo ich war. Er schien geradewegs aus dem Alten Stollen unter dem Bahndamm gekommen zu sein... Aber wie war das möglich? Der war verschlossen, dass wusste ich genau. Und dann noch in diesem Aufzug! Langsam und ohne viel nachzudenken hob ich meine Arme und kehrte dem Mann dabei meine leeren Handflächen zu. Er ließ sich vom Sattel gleiten. Nun sah ich auch sein Schwert im fahlen Licht schimmern. Er schien sich meiner sicher zu sein, dass keine Bedrohung von mir ausging. So steckte er sein Schwert wieder zurück. Mit fragendem Blick kam er auf mich zu. Ich studierte seine Kleidung, so gut mir das in der Dämmerung möglich war. Irgendwas stimmte daran nicht; sie sah so "echt" aus. Sein Blick taxierte widerrum meine Wenigkeit und schien sich nicht minder zu wundern. Mit den Fingerspitzen berührte er vorsichtig den Stoff meiner Jacke. Dann blickte er Richtung Flussufer und kniff die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, was er da sieht. In diesem Moment krachte ein langer Güterzug mit hoher Geschwindigkeit über den Bahndamm. Wie der Blitz fuhr der Mann in sich zusammen und schütze seinen Kopf mit den Armen. Sein Pferd hinter sich erschrak ebenfalls und stieg in die Höhe. Es wieherte und stieg noch einmal auf. Doch offenbar hatte der Mann mitgedacht und noch im Absteigen die Leine der Zügel über einen baumstarken Ast gelegt. Das Ross wollte davon galopieren, wurde aber zurück gehalten. Das Holz ächzte, hielt jedoch stand. Oben donnerte inzwischen Wagon um Wagon in gleichmäßigem Rythmus vorbei, bis der Zug schließlich in der Dunkelheit verschwand und nur noch ein leiser werdendes Geräusch wie einen Schweif hinter sich herzog. 
   Der Mann richtete sich langsam wieder auf und sah ängstlich zum Bahndamm. Das Pferd stieg wieder auf und zerrte an den Zügeln. Wild rollte es mit seinen Augen von Angst und Panik erfüllt. Der Mann schien wieder zu sich zu kommen und sprach beruhigend auf seinen vierbeinigen Gefährten ein. Seine Sprache klang fremd und doch wie etwas, dass ich kennen sollte. Immer mehr Fragezeichen bildeten sich in meinem Kopf. Nocheinmal stampfte das Pferd mit dem Huf auf die Erde und schnaufte. Endlich beruhigte sich das Tier wieder. Der Mann entnahm etwas aus der ledernen Gürteltasche und reichte es dem Pferd auf der flachen Hand. 
Dann drehte er sich zu mir um und fragte mich etwas. Ich verstand kein Wort, obwohl ich wieder den Eindruck hatte, dass mir seine Sprache seltsam bekannt vorkam. Ich entgegnete ihm: "Tut mir leid. Ich verstehe sie nicht." und hob dazu entschuldigend die Hände. Er schüttelte den Kopf und deutete flussaufwärts. Dann sagte er nur ein Wort, was wie "Babenberg" klang. Mit fragendem Blick wiederholte er nocheinmal: "Babenberg". Nun blitzte es in mir auf. Vergangene Woche war mir dieser Begriff bei einer Ausstellung von alten Schriftstücken begegnet. Der Mann meinte die Stadt Bamberg! Mein Blick hellte sich auf und ich zeigte in selbige Richtung mit einem zustimmenden Nicken. "Bamberg", sagte ich, "oder Babenberg": Nun ahnte ich auch, welche Sprache der Mann zu sprechen schien. Althochdeutsch. Aber wer um alles in der Welt spricht heute noch Althochdeutsch und versteht zugleich die hiesige Sprache nicht?! Der Mann nickte nun ebenfalls.
Er ging ein wenig zur Seite und glättete mit dem Lederschuh ein Stück Fläche am Wegrand. Mit einem Stöckchen begann er 4 Zeichen zu malen. Was war das? Runen? Nein, es waren Ziffern: 1021 stand dort. In meinem Kopf ratterte es. Was bedeutet das? Es könnte eine Jahreszahl sein. Aber dann war die erste "2" etwas unsauber geraten. Ich nahm mir ebenfalls einen Zweig, wischte die erste Ziffer weg und schrieb eine "2". Er schüttelte den Kopf und ersetzte die "2" wieder durch eine "1". Er legte seine Linke auf seine Brust und sah mich an. Seine Rechte deutete auf die Zahl. Er war aus dem Jahre 1021 direkt hier her geritten! Na klar! Will der mich veralbern...?! Mit meinem Zweig schrieb ich "2021" und deutete dabei sowohl auf mich, als auch auf die Zahl. Erschrocken weitete sich sein Blick. 'Also wenn er mich versucht in die Irre zu führen, dann hat er eine sehr realistische Art dies zu tun.', dachte ich so bei mir. Allerdings deutet nichts, aber auch gar nichts an ihm und den Dingen, die er bei sich trägt, auf die hiesige Zeit. Stattdessen sieht er aus, wie aus einem historischen Gemälde gefallen.
   Mein Zeitreisender bestieg nun wieder sein schwarzes Ross und hinterlies mir eine grüßende Geste. Aufrecht im Sattel sitzend galoppierte er den Weg flussaufwärts Richtung Bamberg davon. Ich sah ihm noch eine Weile nach und schüttelte dabei den Kopf. Jetzt träume ich schon mit offenen Augen!
   Am nächsten Morgen schlug ich beim Frühstück die Tageszeitung auf. Als ich das Foto auf der Titelseite sah, fiel mir das Brötchen mit der Marmeladenseite voran zurück auf den Teller. "Wer kennt diesen Mann?", stand dort in dicken Lettern gedruckt. Auf einem schemenhaften und etwas unscharfen Foto hob sich mein unbekannter Freund von gestern Abend ab. Irgendjemand hatte ihn offenbar entdeckt und fotografiert. Mit Ross und gegürtetem Schwert stand er mitten auf dem Bamberger Domplatz...! Der Artikel dazu war kurz und enthielt nicht mehr, als ich selbst schon wusste. Ein Mann in historischer Kleidung, Bart, langes Haar und ein schwarzes Ross dazu.
   Nach dem Frühstück machte ich mich auf den Weg. Ich wollte noch einmal zu der Stelle wandern, an der ich Ross und Reiter gestern Abend begegnet war. Es war sehr trüb, fast schon dunkel. Dichter Nebel schob sich übers Land. Endlich war ich an der Wegstelle. Ich ging etwas schneller und dann ein kurzes Stück durchs Gehölz. Brombeerranken bemühten sich, mich zurück zu halten. Da war ein Geräusch, wie Schritte. Gerade noch rechtzeitig war ich am Eingang des Alten Stollens. In der Tiefe schimmerte Licht und ich konnte den Schatten von Ross und Reiter noch entdecken, bevor beide hinter einer Biegung verschwanden. Ich hatte nicht geträumt?! Zurück am Weg sah ich die Jahreszahlen von gestern Abend. Sie waren ebenso Beleg dafür, wie die zahlreichen Hufabdrücke des Pferdes. Ich hatte tatsächlich nicht geträumt und war quasi - durch welchen Zauber auch immer - einem Zeitreisenden begegnet.

ENDE

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