Die kleine Mannschaft feiert Weihnachten

...mein Mann kehrt vom Einkauf für seine Oma zurück. Die alte Dame ist schon über 90 und kann nicht mehr alleine einkaufen gehen. Unter anderem hat er die von Oma nicht benötigte Fernsehzeitung dabei, welche der Tageszeitung beiliegt. Wir benötigen sie auch nicht, aber mein Mann bringt sie trotzdem jedes Mal mit - damit Oma nicht traurig ist...


Die kleine Mannschaft schlägt erwartungsvoll den 24. Dezember auf...: Die Augen hasten in Spalten und Zeilen hin und her... Irgendwo muss doch eine Sendung sein, so in der Art "Wir warten auf den Weihnachtsmann" oder so. Aber nichts dergleichen. Neben dem jährlich zwölfzigsten Aschenputtel, kommen diverse andere Knaller im Programm vor, aber wenig was unsere flinken Äuglein suchen. Derweil kommt der Gedanke auf, wie wohl der Heilige Abend der kleinen Mannschaft aussehen möge...:

Schon ganz früh am Morgen wachen wir auf. Das fahle Morgenlicht scheint soeben erst träge durch den Vorhang, welcher einen Spalt breit offen steht. Es ist trüb und grau draußen,  und kalt ist es auch. Doch wir ziehen die Decke nicht noch einmal zur Nasenspitze. Wir springen auf, flitzen zum Fenster. Wir wollen sehen, ob es heute Nacht endlich einmal geschneit hat.
Nein, leider ist alles grau. Nur ein bißchen Reif überzieht die Wiesen. Heute ist Weihnachten - endlich! Nur noch ein paar Stunden, dann ist es soweit. Rasch ziehen wir uns an. Nach dem Frühstück streifen wir ziellos umher... Alles ist langweilig: Malen, Spielen, Lesen, Basteln, aus dem Fenster scha... HALT, was ist das denn?!? Da sitzt ja der Weihnachtsmann im Auto! Wo will der denn um diese Zeit schon hin? Staunend schauen wir hinterher...
Im Tagesverlauf gehen immer wieder Türen auf und zu, es raschelt, Heimlichkeiten werden hin und her getragen. Leckere Düfte ziehen durch die Räume. Die Spannung steigt und steigt.
Nach dem Mittagessen beschließen wir nach draußen zu gehen. Da alle Geschäfte nun geschlossen haben, leeren sich auch die Straßen. Ziellos wandern wir in leeren Landschaften umher. Es wird leis und leiser. Auf unserem Streifzug laufen wir durch einen schmalen Grünstreifen von kaum 20m Breite. Ein kleiner Bach schlängelt sich hier entlang. Sträucher und niedrige Bäume wechseln sich mit kleineren Grasnarben ab. Herbstlaub wurde  an vielen Stellen durch die Herbststürme zusammen geweht. Die Sonne scheint langsam unter zu gehen; zumindest wird das trübe Grau allmählich dunkler. Noch ist der Weg gut auszumachen, aber schon bald wird sich das ändern. Die Ruhe ist herrlich! Wie gut uns das tut. Nur selten wird die Stille von leisem Rascheln unterbrochen. 'Holt Vater Maus das Festmahl aus der Speisekammer?' Oder 'Sucht ein Vöglein einen Unterschlupf im Laub?' Nicht einmal das kleine Bächlein murmelt. Es ist viel zu wenig Wasser darin - nur ein Rinnsal. Auf einmal wenden wir uns um. Was ist das? Die Dämmerung hat zugenommen. Langsam können wir die Umgebung eher erahnen als sehen. Es ist, als ob ganz wenige, feine Sandkörnchen auf Laubblätter rieseln... Wir laufen an eine lichte Stelle. Auf den Ärmel unseres Wollfilzmantels fallen tatsächlich winzige Eiskristalle... Es schneit! Hurra, es schneit endlich...! Das leise Geriesel ist nun stetig und gut hörbar. Wir laufen weiter mit dem Gedanken, das wir das schönste Weihnachtsgeschenk schon erhalten haben:  Schnee am Heilig Abend. Diesen Wunsch haben wir an jedem 24. Dezember, solange, wie wir uns erinnern können. Als wir wieder ins Städtische eintauchen, hat Frau Holle der Welt schon einen zarten, weißen Flaum verpasst. Alles wirkt gleich heller und freundlicher. Zusammen mit den festlich geschmückten Fenstern und Balkonen überall, wirkt nun alles ganz weihnachtlich. Nun ist wirklich Heilig Abend. Jetzt ist Weihnachten da, denken wir alle zufrieden.
Uns ist nicht kalt und wir könnten noch lange so durch die weiße, friedliche Landschaft laufen... Wäre da nicht die Neugier auf den geschmückten Tannenbaum und die Überraschungen!
Als wir wieder daheim sind, sehen wir beim Ausziehen das Mantels, dass wir eine rote Nase und rosige Wangen bekommen haben. Der Beginn des Winters hat also auch das Gesicht angemalt. Zufrieden und voller Erwartung strahlen wir unser Spiegelgegenüber an.
Dann erklingt ein zartes Glöckchen und die Tür zur Weihnachtsstube öffnet sich. Die Lichter des Bäumchens scheinen und strahlen, als ob es nur diese einzige Gelegenheit dazu gäbe. Kleine Holzfiguren hängen am Baum, Strohsterne, sowie rote und goldene Kugeln. Wie schön... Wie komisch! Wir sehen in der Kugel drinnen ganz anders aus, als im Spiegel vorhin, freut sich jemand. Staunend bewundern wir den Baum. Atmen tief den würzigen Tannenduft ein. Unterm Baum steht ein bunter Naschteller bereit. Gleich stiebitzen wir ein Schokoplätzchen. Auch Apfel, Nüsse und Apfelsine fehlen nicht. (Aber die Nüsse verschenken wir meist, obwohl sie gut auf einen bunten Teller passen.) 
Was wir nirgends entdecken können - Geschenke. Nicht das kleinste Päckchen finden wir! Vielleicht neue Malstifte und ein Malbuch? Oder ein Bilderbuch? Kleine Autos oder Bausteine...? Nichts... Hm, waren wir nicht artig? Als wir uns umdrehen, sehen wir unsere liebe Oma im Sessel sitzen. Auf dem Schoß liegt  unser liebstes Märchenbuch - keltische Märchen. So lange schon haben wir sie nicht gesehen - fast ein Vierteljahrhundert nicht. Wir sind sprachlos, der Mund steht offen. Tonlos klappen wir ihn langsam wieder zu. Sie lächelt uns an. Klopft neben sich auf die Sessellehne und lädt uns neben sich ein. Dann beginnt sie vorzulesen; von Drachen, von Königssöhnen, von fernen Ländern und Meeren. Von verzauberten Gärten und Wäldern, von schönen Prinzessinnen und verwunschenen Hexen. Wie gebannt lauschen wir den alten Geschichten und naschen hin und wieder ein Schokoplätzchen dabei. Die Stimme klingt vertraut - hatten wir sie doch schon fast vergessen. Sie hat sich nicht verändert - scheint immernoch so alt zu sein, wie damals. Mitte 60 - schätzt jemand Älteres ein. Jemand Kleineres berührt sie vorsichtig mit dem Finger. Tippt gegen den Stoff ihres Rocks, streicht schließlich sanft darüber... "Bist Du das wirklich? Bist Du echt, Oma?", fragt eine zarte Stimme ganz leise. "Natürlich", antwortet Oma und lacht dabei.
Als sie fertig mit dem Lesen ist, klappt sie das Märchenbuch zu. "So, jetzt habe ich Hunger!", sagt sie. "Wer hat Appetit auf Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen und Senf?" Alle rufen durcheinander.
Nach dem Essen wird eine alte, flache Spieleschachtel auf den Tisch geschoben. Mensch ärgere Dich nicht! Oma lacht, die Größeren nörgeln herum und die Kleineren jubeln. Das hat schon ewig niemand mit uns gespielt.
Was für ein schöner Weihnachtsabend! Und die großen und kleinen Geschenkpäckchen vermisst längst niemand mehr. Alle erfreuen sich an der gemeinsamen, geschenkten Zeit... ♡

Für Oma R.

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