Ur-Laub

 Seit einigen Tagen sind wir nun hier in den Bergen. Sind ein bißchen angekommen. Waren ein wenig spazierwandern. Haben eine Klamm besucht...

Die Sommersonne scheint (nicht zu heiß!).
Das Gras grünt.
Die Blumen blühen.
Die Falter flattern.
Und die Kühe grasen friedlich auf den Weiden.

Klingt nach der totalen Entspannung. Ist es manchmal auch. 
Wenn wir nicht einen langen Coronawinter mit seeehr viel Kontakt untereinander hinter uns hätten...: Wie soll ich sagen? 
Gestern Abend bin ich nochmal rüber ins Haupthaus. Ziel war die kleine Bibliothek, welche seitlich an die Lobby angegliedert ist. Sie war leer. Kein Mensch war dort. Nur Musik dudelte (leider) aus den Lautsprechern in der Decke. Etwas unnötig, da die allermeisten Gäste ohnehin in der einbrechenden Dämmerung den Sommerabend auf der Terasse genossen und abwechselnd das Farbenspiel am Himmel, in den entfachten Feuerschalen und in ihren Cocktailgläsern beobachteten.



Ich wählte derweil 2 oder 3 Bücher aus und lies mich auf einem Sessel nieder. Gedankenverloren schlug ich einen Weltatlas von Meyers auf. Ich strich über die glatten Seiten hochwertigen Papiers. Ich blätterte und wunderte mich über - für heutige Verhältnisse - seltsame Überschriften über den Karten. Eine Erkundung der ersten Seiten ergab, dass der Altas von 1978 stammte und damit aus einer Weltordnung, in der noch der kalte Krieg das Regiment führte... 
Wieder wunderte ich mich. Dieser große und massive Band erweckte den Eindruck, als sei er vor wenigen Wochen erst gekauft worden! Noch einmal strich ich über die glatten Seiten und merkte, dass ich überhaupt einmal wohltuend allein war. Und wie sehr mir dieses Allein-mit-mir-uns-Sein schon wieder gefehlt hatte. Trotz des betont fröhlichen Mainstreamlärms, der sich noch immer in Form von "aktuellen Songs" über mir aus der Decke ergoss, war ich wundersam allein mit mir und atmete innerlich auf. Ich bemerkte auch dieses "heute-nichts-mehr-müssen". Damit verbunden der Gedanke, dass ich-wir schon wieder nur von einem Tag zum anderen Überleben.
Am Nachmittag sind wir in einem Dom gewesen. Orgel- und Flötenmusik wurde gerade erprobt. Da das meiste für die Ohren annehmbar war, blieben wir ein Viertelstündchen. Ein jeder in der Familie schaute sich nach seinem Belieben um. Ich entdeckte im Bereich links neben dem Altar, eine 'Klagemauer'. Die Gemeinde hatte sich aus Ziegelsteinen eine kleine Sorgenmauer errichtet. Es gab ein Körbchen, in dem wohl mal Zettel gewesen sein mochten und einen Becher mit ein paar Stiften darin. Die Gläubigen konnten dann ihre Sorgen notieren, zusammen rollen und in eine der Vertiefungen der Ziegelsteine stecken. Kurz war ich der Versuchung nahe, meinerseits nach einem Zettel zu suchen: 'Es ist der 70. Geburtstag meiner Mutter und ich verstehe nach wie vor nicht, warum sie mich mit meinen Fragen und meinen Nöten nicht anhört? Warum sie sich mir nicht etwas öffnet, um mir vielleicht auch ihrerseits ihre Sorgen und Nöte anzuvertrauen? Wir sind doch Mutter und Tochter!? Oder nicht?' '
Dachte ich jedenfalls einmal vor langer Zeit...
Ich verwarf meinen Plan wieder. Ich würde keinen Zettel suchen, beschriften und in einem der Ziegelsteine verbergen. Ich bin kein Christ - nicht gläubig. Gott hat sicher schon genug mit seinen eigenen Schäfchen zu tun.

Später dann am Abend, war ich diejenige gewesen, welche die Kinder an den Geburtstag von Oma erinnerte. Meine Tochter schrieb Oma eine Nachricht. Mein Sohn rief Oma immerhin an und übergab später das Telefon an seinen Papa. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Nicht weil meine Familie so säumig bzgl. Omas Geburtstag war... (ich finde es relativ normal, dass man selbstvergessen entspannt im Urlaub durch die Tage wandert, welche nun mal kein Datum haben). Es war eher der Gedanke, dass ich daran dachte - diejenige, die am allerwenigsten daran denken wollte.

Heute, da ist der gestrige Tag schon etwas weiter gewandert. An die Bibliothek denkend ist klar geworden, dass ich mehr freie Zeiteckchen für uns allein finden muss. Immer wieder - damit auch wir ein wenig von diesem Ur-Laub abbekommen. Denn die Bedingungen dafür sind gar nicht mal sooo schlecht.


Beliebte Posts aus diesem Blog

Arbeit mit EMDR (4-Felder-Technik)

Die Baumübung

Ich