An die hiesige Tageszeitung

In einem doppelseitigen Artikel werden mehrere Rentnerpaare (damalige Kriegskinder) vorgestellt, welche ihr jetziges Leben in der Coronapandemie reflektieren. Oft mit dem Verweis, dass im Krieg alles viel schlimmer war und die heutige Generation zuviel "jammert". 

Ich bin davon sehr berührt und schieb:


Sehr geehrtes Team der 'Zeitung', sehr geehrte Rentner der Kriegsgeneration, nach dem Lesen des Artikels und dem Vorstellen der verschiedenen Menschen, welche sich nach den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren mit viel Resilienz, Mut und Tatkraft durchgeschlagen haben, empfinde ich sehr ambivalent. Es geht um viel mehr als nur Corona. Es steckt wieder einmal mehr das unterschiedliche (Er)leben der verschiedenen Generationen dahinter. Ich bin mir bewusst und sehr dankbar darüber, dass ihre Generation, liebe Rentner unser heutiges Land mit aufgebaut hat nach dem Krieg, dass erst durch ihrer Hände Arbeit der Wohlstand dafür geschaffen wurde, den wir heute geniessen dürfen. Auch ich bin der Meinung: Wir haben alle sichere und dichte Dächer über unseren Köpfen, frieren nicht, die Schränke sind voller Kleidung, die Regale gefüllt mit Büchern und Spielen, der Kühlschrank füllt unsere Bäuche. Wir (zumindest die meisten von uns) leiden damit keine körperliche Not. Aber besonders am Artikel, von Ihnen, liebe Helga S., sieht man, wie schwer traumatisiert ihre Generation ist. Was Sie jahrelang gut verdrängen konnten, bahnt sich nun in unguten Erinnerungen und Bildern zunehmend seinen Weg (Flashbacks sagt die Fachwelt der Psychologie dazu). Diese Traumatisierungen hat ihre Generation jedoch an die Nachgeborenen übertragen und weiter gegeben, manchmal nur passiv in Genen, allzuoft leider auch ungut in schädigenden Verhaltensweisen wie körperliche, psychische Gewalt oder Suchtverhalten und den damit verbundenen Schwierigkeiten. Um den Kreis zurück zu Corona zu ziehen - diese "Überlebensängste" von damals leben jedoch in vielen Deutschen fort. Sie wissen oft gar nicht bewusst, warum sie so dieses oder jenes empfinden oder Waren horten, von denen genug da sein sollte... Schwierig ist zu beurteilen, ob das Leben mit Kindern, insbesondere sehr jungen Kindern in der Coronazeit anstrengend und eine extreme Belastung ist, wenn man selbst nie Kinder hatte oder groß gezogen hat. Liebe Rentner - ja, dass ist schwierig und extrem belastend! Aber nicht, weil wir nicht wissen, wo die nächsten Winterstiefel, der warme Mantel oder das Milchpulver herkommen sollen. Körperlich geht es den meisten Kindern eher zu gut. Wir Eltern machen uns um die seelischen Nöte unserer Kinder Sorgen. Weil wir Eltern sind und alle Eltern das tun sollten. Weil es Platz hat, da es keine oder kaum materielle Not gibt. Und weil die seelische Versorgung von Heranwachsenden mindestens genauso wichtig ist, wie die physische! Gerade weil nach dem Krieg erstmal die ganz praktischen Nöte versorgt werden mussten, kam es selten oder nie zu einer Aufarbeitung der ganzen Traumata und oft war die Nachfolgegeneration (Kriegsenkel) dadurch emotional unterversorgt. Lassen Sie uns daher allen Bedürfnissen Achtung schenken und sie entsprechend wahrnehmen! Vergleichen Sie bitte keinen Weltkrieg mit einer Naturkatastrophe (Coronapandemie)! Natürlich war der Krieg viel schlimmer... Aber Homeoffice, parallel zu Kinderbespaßung der Allerjüngsten, Homeschooling mit den Älteren, Haushalt, essen kochen, Lernplattform- oder Datenvolumenproblemen ist eben auf viele Wochen gesehen doch eine Extrembelastung. Selbst wenn wir dabei nicht frieren, hungern oder ums nackte Überleben bangen müssen. 

Herzlichst - Die Himbeere 

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PS an die Redaktion:

Ich bin 44 Jahre alt und verheiratet. Ich habe 2 Kinder im Alter von 11 und 14. Freunde von uns haben noch eine zweieinhalbjährige Nachzüglerin, was mir den Einblick ermöglicht, dass es dort noch "lustiger" zugeht, als bei uns. Ich MUSS anonym schreiben/bleiben. Eben aus dieser Kriegs- und Nachkriegsgeneration, stammen meine eigenen Traumata, die ich erlebt habe: Infolge dessen zogen sich körperliche, psychische und sexuelle Gewalt quer durch unsere Familiengeschichte zwischen 1945 bis in die Gegenwart hinein. Dadurch bin ich derzeit stark beeinträchtigt und erwerbsunfähig. So einfach ist die Rechnung eben doch nicht. Damals ganz viel Krieg und heute ein bisschen Corona. Ich habe Achtung vor dieser Generation. Sehr sogar - ich habe lange beruflich mit älteren Menschen zu tun gehabt und kenne viele Berichte knapp überlebter Bombennächte. Ich finde es dennoch schade, dass von eben jener Generation gerne die Probleme der heutigen Generation beiseite gewischt werden. Es sind andere Probleme - natürlich, aber die Altlasten dieser Generation tragen noch sehr viele in uns und sie sind nicht gerade hilfreich auf vgl.weise ach-so-harmlosen-Coronapfaden. 

 Danke.

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