Es war einmal...

...ein schwarzes und ein weißes Königreich.


Das schwarze Königreich wurde von der schwarzen Königin regiert - ganz allein. Sie duldete keinen Rat. Es lag mitten in einem Gebirge aus lauter schwarzen Steinen und Felsen. Die schwarze Königin hatte eine seltsame Krankheit. Sie brauchte viel Ruhe und Zeit für sich. Ein Zauberer hatte der Königin einst prophezeit, dass nur ein starker und heldenhafter Recke sie von ihrer Krankheit befreien konnte. Die Recken kamen wohl und gingen alsbald wieder. Aber niemand konnte die schwarze Königin befreien. Mit Schimpf und Schande jagte sie jeden von ihnen wieder vom Hofe, so sie nicht schon gegangen waren.
Die schwarze Königin hatte 3 Kinder: Aschekind, Goldkind und Träumekind. Goldkind war ihr Lieblingskind. Sie verwöhnte es, so gut es nur ging. Hatte Goldkind einen Wunsch, ging er sogleich in Erfüllung. Goldkind durfte fast alles - Goldkind konnte fast alles. So war es beliebt im Königreich bei Jedermann und Jederfrau auch weit über die Grenzen des Landes hinaus.
Aschekind aber, wurde von der schwarzen Königin gehasst. Den ganzen Tag lang musste sie arbeiten von früh bis spät. Hatte es die Pastetchen für die Königin nicht rechtzeitig fertig oder den Kamin nicht sauber genug ausgefegt, bekam sie von der Königin Prügel. Manchmal wurde sie auch in den Keller eingesperrt. Aber nie lange, denn sie musste sich oft um ihre jüngeren Geschwister Goldkind und Träumekind kümmern. Sie spielte mit ihnen oder las ihnen vor. Sie schüttelte die Bettchen auf und erzählte ihnen schöne Geschichten vorm Schlafen gehen. Hatte eines der Mädchen schlecht geträumt, stand Aschekind nachts auf und tröstete sie. Vorallem das Jüngste, Träumekind hatte Aschekind daher sehr lieb gewonnen. Am liebsten träumte Träumekind vor sich hin. Gern war es dabei in Aschekinds Nähe, dann fühlte es sich wohl und geborgen.
So war der Alltag im schwarzen Königreich oft eintönig und freudlos. Selten verliesen alle das Königreich, um die Welt zu erkunden. Genau so selten kam Besuch ins schwarze Königreich...

Nicht weit vom schwarzen Königreich lebte nämlich der weiße König im weißen Königreich. Er war der Bruder der schwarzen Königin. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter Weißkind lebte er in einem weißen Marmorschloss am Rande eines grünen Waldes. Oft schien die Sonne im weißen Königreich, so dass die Mauern des Schlosses noch weißer und heller erstrahlten. So kam es, dass man es schon von weitem erkennen konnte.
Eines Tages besuchte der weiße König mit seiner Familie seine Schwester im schwarzen Königreich. Aschekind hatte den ganzen Vormittag schwer gearbeitet, damit alles für die Ankunft der weißen Königsfamilie bereit war. Aber heute machte ihr das nichts aus, denn sie freute sich auf den Besuch von Weißkind! Sie war kaum älter, als ihre kleine Schwester Träumekind. Als die weiße Königsfamilie eintraf hielt sich Weißkind schüchtern am Rande der Gesellschaft versteckt. Aschekind wollte sie auffordern, mit ihr und ihren Schwestern zum Spielen zu kommen. Weißkind kam schon auf sie zu. Da versteinerte sich die Mine des weißen Königs und mit donnernd lauter Stimme, wies er Aschekind zurecht! Aschekind und Weißkind zuckten zusammen und wichen zurück. Aber im Getümmel der Feierlichkeiten kam es doch immer wieder zu kleinen Spielchen zwischen den Kindern - obwohl der weiße König seine Augen nahezu überall hatte. Als die weiße Königsfamilie abgereist war, stand Aschekind noch lange am Fenster und schaute der weißen Kutsche hinterher. Ach, wie gern würde sie doch mit Weißkind tauschen! In einem weißen Schloss wohnen, dass sie nicht dauernd putzen musste. Im grünen Wald toben und spielen. Abends von der weißen Königin zu Bett gebracht werden mit einem sanften Kuss auf die Stirn. Ach, wie gut hatte es Weißkind doch...
Da zupfte Träumekind an ihrem Ärmel und reichte ihr eine Puppe. Sie wollte mit Aschekind spielen. Da musste Aschekind wieder lächeln, denn sie hatte Träumekind sehr gern. Und wie sehr würde ihr Träumekind als Schwester fehlen, wenn sie mit Weißkind tauschen würde! Nein, dass ginge auf keinen Fall.

Die Jahre vergingen. Aschekind und ihre Geschwister trafen kaum mehr auf Weißkind. Als Aschekind und ihre Schwestern erwachsen geworden waren, zogen sie nacheinander weit weg aus dem schwarzen Königreich. Auch Weißkind war heran gewachsen und lebte nun im grünen Wald unweit des weißen Königreiches.

Eines Tages sah Aschekind in den Himmel hinauf, als sie aus dem Haus trat. Eine Möwe kreiste in der Höhe am Himmelsblau. Irgendwann flog die Möwe wieder fort...
Als Weißkind der Holzstapel zu schwer wurde, legte sie ihn ins Gras. Sie streckte sich und schaute in den Himmel hinauf. Da war eine weiße Möwe über ihr im Baum und schaute sie aufmerksam an. Dann flog sie wieder von dannen.
Von nun an besuchte die Möwe Aschekind und Weißkind immer wieder. Irgendetwas wollte sie ihnen sagen, aber was nur? Wenn Aschekind morgens aus dem Haus trat, schaute sie als erstes nach der Möwe. Weißkind erging es ebenso.
Eines Tages beschloss jeder für sich ein Bündel zu schnüren und der Möwe auf ihrem Wege zu folgen. Sie gingen viele Tage. Immer wieder mussten sie warten, bis ihnen die Möwe ein neues Wegstück zeigen konnte. Nach langer Zeit kamen beide in einen uralten Tannenwald - Aschekind von Westen her und Weißkind von Osten her. Es duftete wunderbar nach Harz und Zapfen. Unter ihren Füßen knisterten alte Nadeln geheimnisvoll. In der Mitte des Waldes trafen sich Aschekind und Weißkind schließlich auf einer kleinen Lichtung. Erschrocken blieben sie einen Moment stehen, bevor sie sich vorsichtig einander näherten. Vor einem großen Spiegel, welcher an einer Tanne lehnte, blieben sie stehen. Die Möwe hatte sich auf einer Ecke des Spiegels nieder gelassen und ordnete ihr Gefieder. Hand in Hand standen sie nun vor dem Spiegel und schauten hinein. Aschekind bemerkte: "Wir sehen gar nicht mehr so unterschiedlich aus. Eigentlich sehr ähnlich..." "Das stimmt.", sagte Weißkind zu Aschekind. "Woher hast du die schwarz-grauen Sprenkel?", fragte Aschekind. Da erzählte Weißkind, dass die nach und nach entstanden sind, immer dann wenn ihre Eltern zornig auf sie waren, weil sie etwas nicht gut genug gemacht hatte. Oder wenn sie allein war und sie war oft und lange allein gewesen. Regieren beanspruchte wohl doch sehr viel Zeit. Einige schwarze Sprenkel stammen vielleicht auch aus der schwarzen Kammer im Schloß, in die Weißkind von Zeit zu Zeit mit ihrem Vater gehen musste.
"Und Deine Aschefarbe aus weißen und schwarzen Pünktchen, wie entstanden die?", fragte Weißkind das Aschekind. "Die schwarzen sind von der vielen, schweren Arbeit, der Prügel und der fehlenden Liebe, welche mir die schwarze Königin nie gab. Auch ich wurde oft in die schwarze Kammer gesperrt. Die weißen Pünktchen aber sind von Träumekind und ein paar sind auch von Goldkind. Später kamen noch viele weitere dazu von meinen eigenen Kindern und von meinem Mann.", antwortete Aschekind.

Mit wissenden Tränen der Freude in den Augen sahen sich Aschekind und Weißkind an. Sanft und lange nahmen sie einander in die Arme...
Und die Möwe? Nun, die stieg wieder in den Himmel hinauf - froh, dass sie ihre Aufgabe erfüllt hatte.

(♡ Für ЯR ♡)

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