Mutter Natur und die 4 Elemente

Mutter Natur und die 4 Elemente

Was brennt denn nun mehr? Die Frühlingssonne, die mir in den Nacken scheint oder das kleine Häuflein Spaltholz vor mir in der Feuerschale? Es will einfach nicht richtig Feuer fangen. Ich staple das Holz noch einmal neu und zünde wieder an. Diesmal klappt es. Wenige Momente später leuchtet und knistert es verheißungsvoll. Nun ist es soweit: Ich nehme den Stapel Papier von der Bank. Einzeln – Blatt für Blatt – übergebe ich alles dem Feuer.
Am Abend zuvor hatte ich alles aufgeschrieben – ALLES, was mich quält, bedrängt und traurig macht. Zwanzig handgeschriebene Seiten habe ich gebraucht. Ich habe Gedanken aufgeschrieben, die ich vorher kaum zu formulieren wagte. ALLES aufzuschreiben sortierte mich nicht nur, es schmerzte enorm. Lange Zeit Verdrängtes wurde dadurch realistischer und begreifbarer.
Nun fraßen die Flammen meine Worte auf – Blatt für Blatt...

...ich bin ein Kind aus den 70-er Jahren und wuchs in der DDR auf. Ich war erwünscht und gewollt. Und doch war mein Start alles andere als einfach. Ich war im Bauch meiner Mutter herangewachsen und sollte auf die Welt kommen, aber schon geriet ich in Not! Die Nabelschnur war mehrfach um meinen Hals geschlungen. Plötzlich ging alles sehr schnell! Mit einem Notkaiserschnitt wurde ich im grellen Licht der OP-Lampen dem Bauch meiner Mutter entrissen und damit gerettet...
Noch im Schockzustand, wie ich war, bekam ich nicht, was ich nun dringend gebraucht hätte: körperliche Nähe zu meiner Mutter, ihren Herzschlag und ihren Atem spüren, gestillt werden, ihre Stimme hören, gestreichelt, gehalten und getragen werden. Ich wurde versorgt, aber nicht umsorgt. Dann lag ich allein in meinem Bettchen. Viel zu selten schaute jemand nach mir kleinem und zerbrechlichen Wesen. Einsam. Allein. Da ich nicht ganz gesund war, zwölf unermesslich-lange Wochen im Leben eines Neugeborenen. Erst dann durfte ich zu meinen Eltern nach Hause.

Als ich 10 Jahre alt war, fuhr meine Mutter für 10 Tage in die BRD. Ich hatte irgendwo aufgeschnappt, dass manche Menschen nicht wieder kommen und einfach im Westteil Deutschlands bleiben. Wenn ich an den Tag denke, an dem wir sie zum Bahnhof brachten, kann ich noch heute spüren, wie traurig ich damals war - ich dachte, ich sehe meine Mutter niemals wieder. Als sich der Zug in Bewegung setzte, weinte ich sehr.
Ein Grund mehr, sich in dieser verzweifelten Traurigkeit, wie gewohnt zu Papa am Samstagmorgen ins Bett zu schmiegen. Was mit Vertrauen begann, wurde mit dem größten Vertrauensbruch, den man an einem Kind begehen kann, beendet... Er hat mich sexuell missbraucht. Und nicht nur das, am nächsten Morgen versuchte er es mit Gewalt ein weiteres Mal! Nein – ich wollte keinesfalls jemals wieder in sein Bett zum Kuscheln kommen morgens: Ich kämpfte, schwitzte, geriet in Panik und schrie verzweifelt...! Irgendwann schrie auch er. Dann liess er ab von mir... Ich flüchtete in mein Zimmer und mauerte diese Erlebnisse tief unten in meinem Unterbewusstsein ein.
Als ich im mittleren Teenageralter war, bekam ich zufällig einen kurzen Wortwechsel zwischen meiner Mutter und meinem Vater mit. Nach einem langen Badetag mit Freunden am See, waren wir auf dem Rückweg zum Auto. Die Tochter besagter Freunde war damals so alt wie ich zum Zeitpunkt des Missbrauchs. Offenbar war meiner Mutter tagsüber am Verhalten meines Vaters etwas aufgefallen. Ihre Bemerkung hinterließ bei mir den faden Beigeschmack, dass sie zumindest von seiner „Neigung“ gewusst hat... Ein Schlag ins Gesicht! Für einen kurzen Moment kam alles wieder hoch und der Schreck fuhr mir durch die Glieder! Doch meine Schutzmechanismen waren gnädig und schnell. Rasch war das Loch in meiner inneren Mauer wieder geschlossen.

Über die Jahre wurde ich zum Beziehungskitt meiner Eltern. Meine Mutter wollte sich von meinem Vater trennen. Sie hatte einen Liebhaber, erzählte mir davon. Ich wollte meine Eltern jedoch zusammenhalten. Ich schwieg, vermittelte, verhielt mich unauffällig und angepasst.
Meine Mutter aber wollte dem System entfliehen, welches sie selbst über Jahre erschaffen hatte! Sie hatte meinen Vater mit mäßigem Erfolg vom Alkohol wegbekommen. Sie machte ihm alles Recht. Alles musste sich diesem Plan unterordnen. So auch ich. Niemals durfte ich Freunde einladen, das macht sehr einsam. Nichts durfte je Dreck oder Lärm machen. Nichts. Also kein Kinderleben. Selbst das Klappern von kleinen Plastikbausteinchen war manchmal schon zu laut. Und nun wollte meine Mutter einfach abhauen aus diesem System, was sie selbst mit meinem Vater erschaffen hatte?!? Mich wieder einmal mit allem allein lassen?!?
Nun – meine Mutter blieb und damit auch unsere, schöne Familienfassade.

Mit 17 hatte ich meinen ersten, festen Freund. Die Jugendliebe schlechthin. Bis wir merkten, dass meine Eltern begannen unsere Beziehung zu boykottieren. Es wurde ein Spießrutenlauf. Die wenige Zeit, die wir gemeinsam verbringen durften... Stets waren karge Stunden und Minuten gezählt. Warum sind wir nicht einfach zusammen abgehauen? Ich weiß es nicht. Einen einzigen Urlaub verbrachten wir miteinander – ich war mittlerweile 19 und ich war mit meiner Regel überfällig. Trotz Verhütung. Meine Mutter kaufte mir einen Schwangerschaftstest und überreichte ihn mir mit den Worten: „Wenn er positiv ist, lässt Du es eben wegmachen.“ Ich protestierte! Sie gab nur kühl zurück, ob ich mir denn mein ganzes Leben versauen möchte?!
Ich schaffte es nicht, mich von meinen Eltern zu lösen. Blieb einfach kleben im familiären Netz. Meinem Freund wurde es zu viel. Er ging. Und ich dachte das erste Mal in meinem Leben daran, dem Selbigen ein Ende zu setzen.
Ich lebte und klebte weiter in diesem Spinnennetz, genannt Familie. Blieb der Spielball meiner Eltern. Sie heulten sich beide bei mir über den anderen aus. Ich sollte zwischen ihnen vermitteln. Tolle Familie: Innen drin die Grabenkämpfe und außen die polierte Fassade.
Wenn es deine Mutter schafft, dich mit einer einzigen Bemerkung zu Boden zu ringen und dir dein Vater zur Verabschiedung ungeniert an den Hintern langt, dann läuft etwas gewaltig schief in deinem Leben mit Anfang 40…

Ich seufze.
Inzwischen ist das Feuer fast ausgegangen. Glut glimmt noch. Ein kräftiger Windstoß greift in die Feuerschale hinein, nimmt Asche meiner verbrannten Blätter auf und verwirbelt sie. Ich gieße Wasser über die Feuerschale. Es zischt empört. Es knackt. Das Zischen wird feiner und verliert sich nach und nach. Ich hebe die Feuerschale an und gieße alles auf die Erde. Ich übergebe alles an Mutter Natur. Keine andere Mutter dieser Welt teilte bis jetzt meine Sorgen und Nöte mit mir. Bei diesem Gedanken zieht sich mein Innerstes schmerzhaft zusammen. Tränen schießen mir in die Augen und die Einsamkeit will mir die Kehle zudrücken, so dass ich kaum schlucken und atmen kann.
Als ich wieder Luft bekomme und die Schale abstelle, sehe ich, dass die Wiese eine Brandnarbe hat. Die Hitze des Feuers hat sich hässlich hineingebrannt. Fast so, wie sich Bilder, Erinnerungen und Empfindungen in meine Seele eingebrannt haben.
Plötzlich habe ich eine Idee! Ich hole Rasensamen und versorge damit die Brandwunde der Wiese. Zum Schluss gieße ich.
Jetzt fühle ich mich ein klein wenig versöhnt, auch wenn all meine Dämonen noch bei mir sind. Missmutig hocken sie neben mir auf der Bank, als wüssten sie nicht, was sie als nächstes tun wollen.
Sie werden mir noch das Leben schwer machen, dass spüre ich.
Ich musste mich entscheiden: meine Eltern oder ich...


...ein paar Wochen später nahm ich dann all meinen Mut zusammen – wollte einfach nicht mehr schweigen – und entschied mich für mich. Mit der Trennung von meinen Eltern entschied ich mich für mich und mein Leben. Diese Entscheidung wog tonnenschwer in mir. Sie hätten mich in jedem Fall verloren – an den Tod oder an das Leben.

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