Vor fast 32 Jahren...

...sind wir uns das letzte Mal begegnet. Wir besuchten mit all den anderen gerade die 8. Klasse der in der ehemaligen DDR auslaufenden Polytechnischen Oberschulen. Die Umstrukturierung auf Unterteilung in Grundschule und nachfolgend Mittelschule oder Gymnasium als weiteren Bildungsweg war in vollem Gange. Ich erinnnere mich, dass dieses letzte Halbjahr auch stark davon bestimmt wurde, wer mit wem an welcher Schule weiterlernen würde. Eins war klar - diese Klasse, die nach vielen Umbrüchen und Krisen endlich gut zusammenhielt und sich gefunden hatte, würde auseinandergerissen werden. Letztendlich blieben 3 an der gewohnten Schule, die zum Gymnasium umgewidmet wurde (darunter ich), einer zog um und ging an ein anders Gymnasium. Der Rest unserer "c" wurde auf "a" und "b" für ein Gnadenjahr im Gebäude aufgeteilt, nur um dann für die 10. Klasse nochmal die Schule zu wechseln. (!) Hätte man das nicht anders lösen können???

"A" waren die Artigen (wer's glaubt). "B" waren manchmal die Braven, manchmal die Bösen (eher das Erste). Aber wer richtig krass war - das war unsere Truppe: die "C" - die Chaoten! Bei uns gab es echt alles - von sozial schwach (oder eher stark vernachlässigt) bis hin zu "aus gutem Hause". Damals wohnte einfach alles und jeder bunt gemischt in der "Platte" (Neubau Typ WBS 70 in der DDR). Es gab keine Trennungen wie heute: die Ärztin wohnte im gleichen Hausaufgang und damit im gleichen Luxus (Fernwärme, fließend Warm-/Kaltwasser) wie der Fließbandarbeiter, der Rentner, die Schuhverkäuferin oder der Mann, welcher seine Brötchen bei der Sparkasse verdiente. So kamen auch deren Kinder nach Wohngebiet in eine Klasse und nicht nach Vorlieben und gar Wünschen. Wir mussten uns zusammenraufen. Den Anfang machten 5 Schüler zum Beginn des 2. Halbjahres in der ersten Klasse. Ein 6. Mitschüler kam bald dazu. In der zweiten Klasse füllte sich das Klassenzimmer nach und nach. Wir in der "c" wurden mit allen zugezogenen Kindern des Jahrgangs aufgefüllt, während die anderen aus "a" und "b" dort eingeschult wurden. Einige wenige gingen wieder - wiederholten das Schuljahr, zogen wieder weg oder gingen an eine Förderschule. Ein Mädchen musste gar ins Kinderheim umziehen und damit auch die Schule wechseln. Ihre Mutter war an ihrer Alkoholsucht verstorben. Unsere Klassenkameradin blieb monatelang mit allem allein: keine saubere Kleidung, keine unterschriebenen Klassenarbeiten, keine Frühstücksdose, ungepflegt, schüchtern, etwas zu dick machten wir uns manches Mal über sie lustig. Als wir alle erfuhren, warum das so war, waren wir sehr betroffen und schämten uns. Auf einem Klassenwandertag besuchten wir sie im Heim, nahmen sie in unsere Mitte, entschuldigten uns. Sie verzieh uns...
Einige kamen dazu: aus anderen Schulen, sitzen geblieben, was auch immer... Unsere Klasse war ein derart chaotisch-bunter Haufen, dass so manches Problem gelöst werden musste. Und doch wuchsen wir in der 8. Klasse zum Team zusammen - so hätte es weiter gehen können.

Und heute? Vor Corona (2018 oder 2019) kamen 2 ehemalige Mitschülerinnen zusammen und versuchten alle ehemaligen Mitschüler namentlich zu erinnern und dann auch ausfindig zu machen. So kam über die alte Anschrift (wo meine Eltern ja noch heute wohnen) auch der Kontakt zu mir zustande. Einige blieben "verschollen", einer beging mit 40 Suizid. Etliche konnten oder wollten nicht kommen (so auch ich - das war mir zuviel Vergangenheit damals). Etwa 8 Leute kamen zu einem unterhaltsamen Abend zusammen. Darunter auch einer, mit dem ich heute recht spontan telefoniert habe. (Später ggf. mehr dazu.)

...wir sind glaub ich so gegensätzlich, wie es nur irgend geht. Im Kern aber und in unserem Verstehen der Welt unterm Strich doch viel näher beieinander, als Äußerlichkeiten vermuten lassen.
Er ist ein großer, kräftiger und gestandener Mann, der 10 Jahre als Soldat gedient hat. Er hat Dinge gesehen und Situationen erlebt, die in ihm vieles verändert haben. Ja, er weiß auch all zu gut, was Flashbacks sind! "Auch wenn die Dinge bei Dir anders liegen - ich verstehe Dich sehr gut. Ich denke, ich kenne das und weiß in etwa, was da bei Dir läuft." Und was bei mir bislang in posttraumatischer Schwäche endet, hat bei ihm offenbar zu posttraumatischem Wachstum geführt - ein Hansdampf in allen Gassen: selbstständig, bisweilen beruflich quer in der Welt unterwegs, engagiert er sich dennoch aktiv für Tierschutz, für Kinder in Not... usw. Auch eine ganz klassische Familie gehört zu seinem Leben. Aber er machte auch gleich die Schublade vom harten Kerl mit Muckies, Tattoos und dickem Auto auf... ja auch das ist er irgendwie, aber gaaanz anders. Ein großer, kräftiger Bär mit dickem Fell und einem ganz großen und empfindsamen Herzen.
Er erinnerte sich an mich mit mehr Begeisterung (meine Klischees!), als ich ihm spontan zugetraut hätte: "Ich seh Dich noch vor mir, als kleines zartes Mädchen mit den dunklen, glatten Haaren." 
Aber auch er ist nicht mehr der schlanke und etwas hibbelige Junge von damals. Fotos im Internet passen eher zum (von ihm geöffneten) Klischee: harter Kerl mit weichem Kern.
Ich dachte mir heute morgen, er findet es vielleicht total blöd, dass ich mich bei ihm melde. Ala - 'Na, auf die kann ich aber verzichten! Die war doch so seltsam damals.' Offenbar war ich nicht viel seltsamer, als die anderen Mädels. Das bleibt also meine Wahrnehmung von mir selbst. 

Bis - ja, bis er anrief nach fast 32 Jahren.

(Fortsetzung folgt. EDIT: "Story of Winz" vom 09.03.2023)

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