Kleine Zeitreise

Zuerst umrunde ich das Haus zur Hälfte. Ich weiß noch, dass es der zweite Eingang ist. Hinter dem Gebäude ist der Wäscheplatz. In Reih und Glied stehen die Wäschestangen. Ob heutzutage bei schönem Wetter noch jemand mit der frisch gewaschenen Wäsche hinters Haus tritt, um erst die Leine zu spannen und dann die Wäsche aufzuhängen? (Wir haben das zumindest damals in unserer ersten Wohnung nach der Jahrtausendwende noch so gemacht...) Heute ist die Wiese jedoch komplett wäschefrei. Die 2 kleinen Stufen zur Wiese, auf denen ich sitze, sind noch genauso da, wie vor über 45 Jahren. Und natürlich ist auch das Fußballspielen nach wie vor untersagt. 😅



Mein Blick geht zur hinteren Haustür, die Fassade hinauf entlang der Balkons. Sie alle - und damit auch ich selbst für kurze Zeit - wohnten da ganz oben. Der Balkon ist vergleichsweise winzig. Damals war er komplett aus Stein, heute ist nur noch die Bodenplatte aus Stahlbeton und die Brüstung aus Metall. Bis heute ist mir schleierhaft, wie diese schweren 'Betonklumpen' damals solange als Balkons dienen konnten. Ich kann mich aber auch erinnern, dass sie Mitte der 80-er wegen Absturzgefahr gesperrt wurden...

Da oben haben alle gewohnt... Die Sonne schien ins große Wohnzimmer. Da wurden Geburtstage gefeiert, alle waren da. Manchmal ging es für eine Weile zum Spielen auf die Wiese unter den Wäschestangen. Tantchen nahm mich auf den Arm und lief hopsend mit mir die Treppen hinunter... Oder ich spielte im großen Flur. Zumindest kam er mir damals riesig vor! Es gingen jede Menge Türen von ihm ab in die verschiedenen Zimmer der großen Wohnung. Aber welche Tür führt wohin? Einmal um die eigene Achse gedreht, wusste ich es oftmals nicht mehr. Dann stand ich still und rührte mich nicht mehr. Ich lauschte: 'Von woher kamen die Stimmen? Wo mochte also die Stube sein?'

Ich stemme mich wieder hoch von den 2 Stufen und schiebe mein Rad auf die Vorderseite des Hausriegels. Der Weg vorbei am Vorgarten des Hauseingangs ist schmal und seit jeher von 2 mittlerweile mannshohen Hecken gesäumt. Ich betrachte den Hauseingang und stutze ungläubig: Obwohl es sich um einen ordentlich-sanierten Altbau handelt, sind einige Details unangetastet!
Die Eingangsstufe ist ausgetreten und glatt gescheuert. Der Einlegerost zum Schuhe abputzen ist zweifelsohne noch das Original - wurde nur gereinigt und von losem Rost befreit. Zwei Ösen zeugen davon, wie er mit einem kleinen Eisenstab zur Reinigung des Kastens darunter heraus genommen werden kann.
Ich hocke mich vor den Eingang und lege meine Hand auf die glatteste Stelle der Stufe. Ganz blank getreten ist der Stein dort, wo die meisten Schuhe darüber liefen: Omas Schuhe, Opas Schuhe, die Schuhe meiner Tanten, meines Onkels und meines Vaters. Die Schuhe meiner Mutter. Und auch meine eigenen kleinen Schuhe. Schuhe von Cousins und Cousinen. Die Schuhe der kleinen Uromi... Schließlich auch die Schuhe der Nachbarn, ihrer Angehörigen, aller Menschen, die davor und danach dort je gewohnt haben. Wenn diese Stufe erzählen könnte...!
Sanft streiche ich über die glatte, kühle Oberfläche - kann einen Hauch der Menschen von damals hier spüren...



Ich habe mein Telefon nicht dabei. ich würde gern ein Foto machen und kann das gerade nicht tun. Ein anderes Mal. Denn ich weiß, dass ich sofort, wenn ich daheim bin, Blog schreiben werde. Die Eindrücke und Gedanken festhalten, solange sich noch keine Milchglasscheibe davor schiebt...

Langsam rolle ich mit dem Fahrrad auf dem Fußweg die Straße entlang, um wieder heim zu fahren. Leise und hohl klackern immer wieder einzelne Gehwegplatten aneinander. Auch die sind noch da, so wie die alten und massiven Bordsteine aus Granit und das Großkopfpflaster, welches mich sonst fürchterlich durchrütteln würde. Mit jedem, von dannen gerollten Meter verlasse ich das flüchtige Gespinst aus der Vergangenheit, welches ich kurz besucht habe. Und das ist gut so.

(Fotos eingefügt am 31.03.23)

Beliebte Posts aus diesem Blog

Arbeit mit EMDR (4-Felder-Technik)

Die Baumübung

Ich