Story of Winz

Wie kam es zu Winz?  Wozu ist Winz da? Und alles, was es noch dazu zu fragen gäbe...

In meinem gesamten, bisherigen Therapiesetting gab es schon immer den Wunsch, bestimmte Elemente meiner Beeinträchtigung, aber auch einen äußerlich-sichtbaren Kampfeswillen irgendwie darzustellen, beGREIFbar zu machen und immer bei mir zu tragen. Aber über die Jahre fand sich nichts wirklich geeignetes, welches alle Punkte erfüllt.

Ein Stück getrocknete Kastanienschale symbolisierte gut meinen Wunsch nach Abgrenzung zum einen und Schutzbedürfnis zum anderes. Sie lies sich jedoch furchtbar schlecht in meiner Hosentasche herumtragen.
Skelettchen aus dem Hause Playmobil symbolisierte treffend unseren großen Hunger nach müttlericher Zuwendung und den tatsächlichen Versorgungsstand damit.
Zuletzt kam noch Jojo dazu; eine Kinderfigur von Lego Duplo, welche nun noch schlechter zum Mitnehmen geeignet war, als die Vorgenannten...
Ganz davon abgesehen, können Skelettchen und Jojo uns nicht verteidigen.

Ende Februar räumte ich also eine lang vernachlässigte Kramecke auf. Darunter fanden sich auch diverse Kindertattoos zum Aufbringen auf die Haut. Ein Winzling in Form eines Emojis fiel mir erst ins Auge und dann auf die Haut meines linken Unterarms. Von dort aus streckte er nun fröhlich der Welt die Zunge heraus und schien zu sagen: "Ich bin winzig, aber ich werde es Euch schon zeigen!" Er gefiel vor allem den Jüngeren in unserer kleinen Mannschaft, die ja auch alle eher links in der Hülle wohnen.
Ich knipste den frechen Winzling und postete ihn in einem Beitrag. Mein Cousin schrieb mir dazu: "Könnte ein Tattoo sein...". Und damit brachte er uns alle auf eine geniale Idee - Der Winzling MUSS ja nicht verschwinden! Er könnte auch dauerthaft bei uns einziehen...! 😃
Aber wer packt Nadeln und Tinte aus für einen 1,1cm großen Winzling??? Die lachen mich doch glatt aus mit diesem Wunsch oder lehnen verschämt solch einen Auftrag ab.
*pling* machte es im Kopf. Ein ehemaliger Klassenkamerad hat doch sein eigenes Studio. Frag ihn doch mal. Gesagt - getan.
So verabredeten wir uns für den 6. März in der Mittagszeit.

Am Montag waren alle furchtbar aufgeregt. Am Vormittag besorgte ich noch ein kleines Geschenk zu Fuss. So hatte ich wenigstens was zu tun und nicht so viel ungenutzte Zeit.
Der Empfang war herzlich ohne Ende - nicht nur von ihm, sondern auch von Ari seinem Hundewelpen, der sich sichtlich über Besuch freute. Zum Warmwerden schwatzten wir eine Weile und kamen Stück für Stück auf Winzling zu sprechen. Er machte mir Mut, Winzling etwas wachsen zu lassen. Mit einer Art Abzug vom Blaupapier wurde mein selbst gezeichneter Winz probehalber platziert. Gemeinsam schauten wir im Spiegel, ob das auch so passt. Dann ging es ans Stechen. Ich muss sagen, ich hätte es mir erheblich schlimmer vorgestellt. Obwohl die Haut im Bereich über dem Handgelenk auf der Innenseite deutlich dünner und empfindsamer ist, als bei anderen Bereichen, nahm ich nicht mehr als ein leichtes bis mittleres Kratzen war. Nach ein paar Minuten grinste der 2,5cm große Winz von meinem Arm und wurde unter einer Pflasterfolie "versteckt". Fertig!
"Herzlich Willkommen im Club der Assis!", grinste mir mein ehemaliger Mitschüler entgegen. "Jetzt hast Du Dein allererstes Tattoo." Ich grinste mit, war aber im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass es auch dabei bleibt. Natürlich ist mir der gewisse Suchtfaktor dabei nicht unbekannt... Im Nachgang wurde aus dem Gedanken, Winz irgendwann als Blütenmitte in eine Blume zu integrieren, eher eine "spielerische Variable". Vor meinem geistigen Auge sah ich Winz immer wieder neu verziert, je nach Stimmungslage und Versorgungszustand der Jüngeren im Innen. Ich kann ja vieles Dazumalen, wenn Winz abgeheilt ist, was einige Tage bleibt und wieder weggeht. Sonnenstrahlen, eine warme Mütze, eine Eiswaffel zum Schleckern... Oder ich kann ihn auch verstecken im Ärmel oder unter einem breiten Armband, wenn im Innen der Wunsch nach Rückzug und Verstecken besteht. 

Ich hab Winz immer dabei. Egal, wie ich da bin oder was ich anhabe. Winz ist immer da. Er geht nie wieder weg. Wenn es mir richtig sch**** geht und ich längst nicht mehr an irgendwelche Skills in irgendwelchen Koffern oder weiß der Geier an was denken kann, wird Winz mich erinnern, dass es dennoch keine gute Idee ist, diesmal und jetzt nun wirklich und endgültig aufzugeben. Winz wird ein "MOMEMT MAL!" allein durch seine Präsenz ausrufen: Er wird mich daran erinnern, dass ich weiter kämpfen will bis zum Schluss, so wie es auch der Mann meiner Lieblingskollegin getan hat, dem ich versprochen habe, an seinen Mut und seinen Willen zu denken, wenn es bei mir mal wieder schlimm aussieht...! Winz ist damit auch (m)eine Lebensversicherung. Winz ist Suizidprävention für mich und uns alle im Innen. Diesmal aber eine sichtbare, begreifbare und nicht nur als Gedanke im Hinterkopf, auf den ich in Krisen nur schlecht bis gar keinen Zugriff habe.

Letztenendes ist Winz auch ein Autonomieschritt. Mich hat schon vor über 20 Jahren interessiert, wie es sich anfühlt, ein Tattoo stechen zu lassen und wie es ist, dann damit "anders als vorher" in der Welt zu sein. Spätestens, wenn ich meinem Vater diese Errungeschaft präsentiert hätte, wäre es zu 99,99% mit "Assi" abgetan worden. Ja, dann bin ich nun eben "Assi". 😁 Ich wurde ja auch auf das Herzlichste in diesem Club begrüßt.
Viel besser, als woanders nicht willkommen zu sein...

Winz ist also ein Seelentattoo, ein Skill, ein Motivationstool, eine kleine Rebellion, eine Lebensversicherung, ein Verband über eine große seelische Narbe...

Nur Freude und Euphorie?!?
Mitnichten!!! Als ich am Dienstagmorgen erwachte, war jemand Älteres "vorn", der Winz albern und peinlich fand. Panik stieg in mir hoch. Mir wurde flau, klamm und schwindlig. Ein inneres Rasen begann. Scham. Tiefes Bereuen. Das alles begann sich in eine nahende Todesangst zu steigern. "Stirbst Du an dem Tattoo oder kannst Du weiterleben?", raunzte jemand anderes im Innen. Der "Panikmacher" stutzte und gab ein kleinlautes "Nein." als Antwort. Skeptisch begann der "Panikmacher" jedoch nach 'Tattoo' und 'Reue' zu googeln und fand lauter versöhnliche Argumente. Tattoos sind letztenendes wie Narben, Falten oder Male nichts anderes als Geschichten, die unser Körper über unser Leben erzählt. Sie gehören zu uns und unserem Werden, Wachsen und Vergehen. Danach konnte der "Panikmachenr" sich soweit beruhigen, dass sogar das Frühstück stattfinden konnte. Innenkomunikation für dieses Mal gelungen. 💪🏼

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