Zeit ist relativ

"Dreh dich zur Wand und schlaf' endlich!"
Das sind die letzten Worte meiner Mutter, die sie an diesem Abend zu mir sagt.

Es ist irgendwann in den 1980-ern und ich bin im Grundschulalter. Wie immer haben wir ein kleines Zimmer zu dritt. Es ist vielleicht 21 Uhr. Vor einer Stunde bin ich zu Bett gegangen. Etwas später, als sonst daheim. Es sind ja Ferien und Urlaub! Aber ich kann einfach nicht einschlafen. Egal wie lange und wie fest ich meine Augen zusammen kneife, sie gehen jedes Mal wie von alleine wieder auf.
Meine Eltern schauen einen Krimi auf dem kleinen Kofferfernseher, der im Zimmer steht. Schon alleine deswegen kann ich nicht einschlafen! 
Aber ich bleibe zur Wand gedreht liegen. Jetzt nur keinen Fehltritt mehr erlauben. Die letzte Ermahnung hatte an Schärfe schon zugenommen. Also betrachte ich die geschwungenen Rauten in beige und hellbraun auf der Wandtapete. Hier und da hat das Muster kleine Beschädigungen, weil zB. jemand angestoßen oder entlang geschrammt ist. Die Rauten erzittern im Flackern der Schwarzweissbilder, welche der kleine Kasten nach wie vor von sich gibt. Eine halbe Ewigkeit geht das so. Irgendwann wird der Fernseher ausgeknipst und meine Eltern machen sich bettfertig. Ich liege noch immer regungslos zur Wand gedreht; kneife vorsichtshalber die Augen wieder zu - nicht, dass doch noch mal jemand schaut, ob ich wirklich schlafe...!
Irgendwann liegen Beide im Bett. Ruhe kehrt ein. Ich entspanne mich ein wenig und öffne die Augen wieder. Ruhig und unscheinbar sind die Rauten nun vor mir an der Wand; sind wohl ebenfalls schlafen gegangen. Vielleicht kann ich nun auch einschlafen? Ich kuschle mich noch ein wenig tiefer ins Bettzeug und schließe die Augen. Ich habe nur wenige ruhige Atemzüge gemacht, als mein Vater zu schnarchen beginnt. Erst mäßig, dann immer lauter und länger... Im Nu ist der Hauch an Entspannung verflogen bei mir und ich bin wieder putzmunter!
So beginne ich einen neuen Dialog mit den erblassten Rauten und langweile mich durchs Schnarchkonzert hindurch...
.
.
.
.
.
Irrrrchhhhhhhhhhgendwann muss das Schnarchen leiser geworden sein. Irrrchhhhgendwann hat es geendet, da mein Vater seine Tiefschlafphase erreicht hat. Und irgendwann da, muss ich dann auch eingeschlafen sein - nach relativ langer Zeit.

________________________________________

Vielleicht hätte ich mich "einfach" nur zumuten müssen: Sagen müssen, dass mich das Fernsehen stört und mich wach hält. Das ich noch nicht müde bin. Das ich lieber noch lesen möchte... Ich bin ja trotzdem leise und störe nicht.
Aber dieses 'dreh dich zur Wand!', grenzt mich irgendwie aus. 'Wir brauchen Dich jetzt nicht. Du störst uns gerade.' Es "verfrachtet" mich in einen "empfundenen Nebenraum", aber doch liege ich im selben Zimmer. Verdammt dazu, mich schlafend zu stellen (mich tot zu stellen, kommt mir eher in den Sinn!). Und das über Stunden! Immerhin - ich liege und ich friere nicht; langweilig und öde ist es trotzdem. Und missachtend; irgendwie jedenfalls.

Dieses "Stören" kam immer wieder mal vor: In meiner Ausbildungszeit hatte ich mehrere Berufsschulblöcke in Lübeck zu absolvieren und war daher 2 - 3 Mal im Jahr für 4 bis 6 Wochen dort im Internat untergebracht. Viele Schüler sind an den Wochenenden heimgefahren. Manchmal sogar jene, die noch weiter weg als ich lebten. Ich fuhr in dieser ganzen Zeit genau 1 Mal nach Hause. Das war Ende des zweiten Lehrjahres. Mein damaliger Freund hatte Konzertkarten für uns beide. Ich fühlte mich nicht willkommen. Spürte, wie ich ein "geordnetes Muster" durchbrochen hatte. In der Berufsschulzeit war fest eingeplant, dass ich DURCHGEHEND NICHT DA war. Alles andere war irgendwie nicht vorgesehen und brachte ihre Ordnung durcheinander. Ich erinnere mich noch, dass ich froh war am Sonntagvormittag wieder abzufahren...
Bleibt der Nachgeschmack, da sein zu müssen, wenn ich gerade 'von Nutzen' war und 'unsichtbar' zu sein, wenn ich gerade nicht 'gebraucht' wurde. Traurig.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Arbeit mit EMDR (4-Felder-Technik)

Die Baumübung

Malheur de Kack