Eine schöne Umkehr

Als ich Mitte der Neunziger eine Lehrstelle suchte, war das ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Nach den sogenannten Babyboomern, waren wir wiederum sehr geburtenstarke Jahrgänge, die da von der Schule abgingen. Dementsprechend überlaufen war der Lehrstellenmarkt. Nicht selten kamen auf eine einzige Lehrstelle weit über hundert Bewerber. Da ich mit einem leidlich guten Abiturzeugnis von der Schule ging, war es sicherlich etwas einfacher, als wenn man ein vergleichbares oder schlechteres Zeugnis der mittleren Reife mit heimgebracht hätte.

Anfangs wusste ich überhaupt nichts. Das heißt eher - ich hatte ein ziemlich genaues Gespür dafür, was mich interessieren würde, aber was ich aufgrund meiner Leistungsfähigkeit und meiner Möglichkeiten NICHT schaffen würde: ein Medizinstudium oder ein Studium der Mikrobiologie. Überdies war ich Schüler, schon so lange Schüler, dass ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen konnte, je etwas anderes zu tun, als zur Schule zu gehen...
Die Entscheidungshilfen durch die Berufsberatung war damals noch in der Version "extralight": Weder kamen sie an Schulen, noch gab es irgendwelche Tests, mit denen man herausfinden konnte, wo evt. verborgene Talente und Stärken lagen. Selbst Berufspraktika steckten noch in den Kinderschuhen. Ich hatte in der neunten ein Einziges bei einer großen, namhaften Krankenkasse und fand es furchtbar! (...das lag aber auch an einer Kollegin, die am Frühstückstisch in schillerndsten Farben, die schmerzhafte Geburt ihres ersten und einzigen Kindes erzählen musste.)
Meine Eltern "verlegten" sich dann ziemlich schnell darauf, mich zu einem Beruf im mittleren oder besser noch, gehobenen Dienst zu drängen. (Also eine Beamtenlaufbahn) Der Eignungstest ergab, dass ich mich möglicher Weise dazu eigne. Das persönliche Gespräch ergab schnell, dass das nix wird. Wahrscheinlich war ich damals leichter zu durchschauen, als eine Glasscherbe auf dem Gehweg.
Über eigene Recherche (damals waren alle Berufe in einem Büchlein zusammengefasst, welches ich mir vornahm), kam ich darauf, dass Augenoptiker recht gut zu mir passen könnte. Etwa um diese Zeit hatte ich auch einen Berufsberatungstermin im Arbeitsamt. Dort empfahl man mir noch "so-etwas-ähnliches": den Hörgeräteakustiker (heute heißt es Hörakustiker). Das wurde es dann auch... Im Laufe meines jungen Erwachsenenlebens wollte es die Ironie des Schicksals, dass ich den Gesellenbrief des Augenoptikers wenige Jahre später auch noch erhielt. Dabei passt Hörakustiker deutlich besser zu mir - ist doch der Modeaspekt erheblich kleiner, als in der Augenoptik und dafür der Kundenkontakt wesentlich intensiver.
Oft habe ich mich bei meiner Lehrstellensuche alles andere als wohl gefühlt. Ich wurde zu Bewerbungen gedrängt, die nicht zu mir passten, wurde in Bewerbungsgesprächen denunziert, warum ich den Realschülern die Lehrstellen wegnehmen will usw.

Diese Woche war (zumindest in Sachsen) die "Schau-rein"-Woche. Mein Sohn ging also für einige Stunden in verschiedene Unternehmen, welche Ausbildungsberufe ihres Hauses vorstellten. Dort haben zukünftige Azubis die Möglichkeit, ihren potenziellen, neuen Kollegen über die Schulter zu schauen. 
Mit anderen Worten, mittlerweile ist es durch Fachkräftemangel so, dass sich nicht nur die Schüler bei den Unternehmen bewerben, sondern auch die Unternehmen bei den Schülern. Ehrlich gesagt, finde ich das sehr gut. Es schafft ein Gleichgewicht, welches schon länger gebraucht wurde. Mitte der 90-er konnten sich nicht wenige Azubis bei Fehlern Sätze anhören, wie "da draußen warten noch hundert andere, die deine Lehrstelle haben wollen!". Ja, Lehrlinge machen Fehler; sie lernen noch. Sie müssen sich ausprobieren dürfen und das inkludiert, falsche Lösungswege. Nicht selten wurden von den Azubis auch "Pampelarbeiten" verlangt, die kein anderer machen wollte und die (nicht selten) gar nicht zulässig waren. "Du machst das jetzt trotzdem!, Du weißt ja, draußen warten noch Hundert andere..." Bei mir waren das Dinge, wie die Akten von mehreren 1000 Kunden neu zu sortieren und abzuheften oder die Blätter eines großen Ficus einzeln abzuwaschen, so das er wieder taufrisch glänzt. "Lehrjahre sind keine Herrenjahre!" Den Satz bekam ich vorallem zu Beginn sehr oft serviert. Heute würde er mich sehr stutzig machen!
Mag es auch einige Jugendliche geben, die nicht mehr so "leistungbereit" sind, wie die Generationen vor Ihnen. Auf jeden Fall sind sie nicht mehr so devot und das ist gut so. Ich bin mir dennoch sicher, dass man die Jugend für Arbeit und Beruf - und damit auch für Leistung -  begeistern kann, wenn man gut mit ihnen umgeht. Wer sich für sein Team und sein Unternehmen nämlich begeistern kann, der wird sich auch mit Feuereifer ins Lernen stürzen und Leistung zeigen. Da haben dann auch die Unternehmen was davon! Und ich denke, die meisten haben das mittlerweile auch erkannt!

Beliebte Posts aus diesem Blog

Arbeit mit EMDR (4-Felder-Technik)

Die Baumübung

Malheur de Kack