Retrospektive

Vielleicht liegt hier schon ein ähnlicher Artikel im Blog herum. Damit weder ihr noch ich lange suchen müsst, schreibe ich noch einmal neu. Auch, weil ich diese Rückschau genau jetzt noch einmal für mich selbst benötige.


Es ist erstaunlich, wie riesig bestimmte Räume oder Dinge für kleine Menschen sind… Der Gruppenraum war ein Saal, die Erzieherin eine Riesin und der Rodelberg im Garten sehr hoch. (Der Berg war so hoch, wie ein Komposthaufen.)

Im Februar 1980 stehe ich im mittleren Gruppenraum und schaue mich um. Es ist ganz still, denn alle anderen Kinder sind im Garten oder zum Spaziergang unterwegs. Das wird mein Kindergarten, hat Mutti gesagt. Die Holzdielen knarren hier und da ganz leise, wenn ich Schritte mache. Mir gefällt das Geräusch. Ich kenne es nicht aus unserem neu gebauten Wohnblock. 

Einige Tage später bringt mich Mutti jeden Tag sehr früh in die alte Villa. Sehnsüchtig schaue ich ihr nach, wie sie sich auf dem Gehweg nochmal umdreht, um zu winken und dann in Richtung Haltestelle in der Dunkelheit verschwindet. 

Im Frühdienst spielen alle Kinder. Im Sommer draußen und im Winter drinnen. Danach gibt es Frühstück und alle sollen dabei ganz still sein. Ich habe keinen Hunger und lasse meine Schnitte nach dem ersten Bissen in die Mitte auf der Rinde wie ein Boot schaukeln. Das ist nicht erlaubt! Ich stecke eine Ermahnung weg. 

An manchen Tagen ist danach 'Beschäftigung'. Das ist wie eine Vorform von Schulunterricht. Wir lernen etwas über die Natur, malen oder basteln nach Vorgabe und erfahren etwas über die Arbeit unserer Soldaten in der DDR. An anderen Tagen gehen wir spazieren. Immer 2 Kinder nehmen einander bei der Hand und gehen gemeinsam. Alle Paare laufen in ordentlicher Reihe hinter einander her. Nicht zu dicht auflaufen! Nicht trödeln! Nicht laut schwatzen oder herum kaspern! Mir gefällt der Spaziergang nicht. Es ist langweilig. Wir haben kein interessantes Ziel und machen dürfen wir auch nichts. Wer sich daneben benimmt (oder aus heutiger Sicht: wie ein Kind verhält), bekommt Schelte vor versammelter Gruppe und muss anschließend an der Hand der Erzieherin gehen. Die ist hart um die kleine Kinderhand geschlossen und zeigt mit jeder Bewegung und ‘Geste’ im Gehen, wie schlecht sich das Kind doch benommen hat! 

Beim Mittagessen müssen alle wieder still am Tisch sitzen. Alle Regeln müssen natürlich eingehalten werden. Ordentlich mit dem Besteck umgehen! Mit dem Kartoffelbrei keine Burgen bauen! Nicht schmatzen! 

Soviel Disziplin macht nicht müde, sondern bewegungslustig… Deshalb geht es auch nicht etwa zum Abreagieren nach draußen, sondern zum Mittagsschlaf auf die harte Holzklappliege. Alle müssen schlafen! Also Augen zu und still liegen ohne zappeln, auch wenn Du gar nicht müde bist! …mindestens eine Stunde lang… 

Nach dem Aufstehen gibt es Vesper. Manchmal ist sogar etwas Süßes dabei. Zu Fasching gibt es einen halben Pfannkuchen (Krapfen) für jeden. 

Am Nachmittag ist endlich die viele Disziplin geschafft. Wir spielen wieder im Garten oder drinnen, je nach Jahreszeit und Witterung. Eine Weile bin ich friedlich beschäftigt. Die Kinderzahl, welche noch da ist, verringert sich. Ich schaue immer öfter nach, wann ich abgeholt werde. Viel zu lange dauert es, bis endlich Mutti oder ganz selten Vati vor der Tür stehen. Ein ganz normaler Kindergartentag ist geschafft.


Die schwierigen Momente abseits der Alltagsroutine im Kindergarten erscheinen mir eher als Spots hier und da…:

  • Die abgekochte, widerliche Milch, die jeden Morgen getrunken werden musste! Es half nichts. Selbst M., der sie jeden Morgen wieder herausbrach musste wenigstens eine Vierteltasse trinken!

  • In die Ecke/ an die Wand stellen, wenn man ein ‘Vergehen’ begangen hatte.

  • Das Vorführen vor den anderen Kindern, wenn man etwas nicht ganz so gut hinbekommen hatte wie andere Kinder. (Weil sich Malfarben vermischt hatten, die das nicht durften. Oder weil sie sich nicht vermischt hatten, obwohl sie das sollten. Der Bär aus Knete, der partout nicht stehen wollte…!)

!!Anm.: Ich hätte ja sehr gerne mit Malfarben daheim gemalt. Dann hätte ich über das Vermischen oder Nichtvermischen der Farben besser Bescheid gewusst. Aber DAS macht ja Schmutz und Aufwand. Das durfte daheim nicht sein. Buntstifte waren das Mittel der Wahl.

  • Zu Weihnachten, wenn der Weihnachtsmann kam, erhielt jedes Kind etwas aus dem großen Sack. Die braven Kinder bekamen eine Apfel oder gar eine Orange. Die übrigen, welche manchmal versuchten Kind zu sein oder schlicht manchmal Pech hatten, mussten mit ein oder zwei Walnüssen vorlieb nehmen. Kurz - bis auf einmal war ich ein Walnusskind!

  • Wenn in der Adventszeit Räucherkerzchen angezündet wurden (es gab eigentlich nur grüne und schwarze), durfte ich nicht den Raum verlassen, obwohl ich sichtbar Angst hatte und mich nicht wohl fühlte. Mein Puls raste! Ich versuchte durch den Stoff meines Ärmels einzuatmen… Heute weiß ich, dass ich damals Panikattacken auf diesen Geruch hin hatte. Es gibt eine klare Verbindung zu meinem Opa väterlicher Seits. Jedoch existieren keine weiteren Erinnerungen oder Bilder mit traumatischem Inhalt mehr dazu. Die Angst und Panik jedoch sind im Körper und im Nervensystem verblieben. (‘Da war nicht Nichts!’, ist hierzu die Aussage.)

  • Auf einem dieser langweiligen Spaziergänge reimte ich vor mich hin. Immer wieder mit unterschiedlichen Wörtern als Grundlage. Dann benutzte ich leider am Ende des Spazierganges den Nachnamen meiner Erzieherin S. dazu. Sie riss mich aus der Reihe heraus und packte mich auf dem letzten Metern grob an der Hand. An der Eingangstür brüllte sie mich an. Spucketröpfchen landeten in meinem Gesicht. Sie packte mich schmerzhaft an den Oberarmen und knallte mich mit Rücken und Kopf an die Eingangstür. Es war Anorak und Mützenzeit - so hielt sich der Schmerz in Grenzen.



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