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Mittlerweile ist es kurz nach 10 an diesem Morgen. Mein Sohn trifft die letzten Vorbereitungen für seinen Ferientag mit Oma. Sie telefonieren sogar noch einmal. Da er gern auf "laut" stellt, höre ich zumindest ihre Stimme aus dem anderen Raum. Sofort flutet eine Welle mit Ermahnungen und Rechtfertigungen, vorallem aber mit Anschuldigungen mein Sprachzentrum.
Nicht, dass meine Mutter ohne Unterlass immer nur mit mir geschimpft hätte. Es ist mehr eine mögliche Zusammenfassung dessen, was sie heute zu mir sagen würde. Keine optimistische - dass gebe ich zu. (Es könnte ja auch ganz anders sein.)
Jedoch hat sich ein Bild vom 2. Januar 2017 fest eingebrannt: Ihr wütender, kalter, ja stechender und alles vernichtender Blick, mit dem sie mich an diesem Tage bedachte. Mein Sohn wusste noch nichts vom Kontaktabbruch, war noch keine 8 Jahre alt und wollte seinen Ferientag bei Oma verbringen. Ich brachte ihn hin. Abgemacht war, dass sie NICHT VOR einer bestimmten Uhrzeit unten steht und er somit alleine rein geht. Sie war schon an ihrem Auto vorm Haus, als wir kamen - VOR der Zeit. Ich sah mich gezwungen sie "normal" mit Umarmung zu begrüßen... Ein Albtraum!

Immer wieder in etwas größeren Abständen erforsche ich, was es Neues zur Thematik "Kontaktabbruch", "Verlassene Eltern" und "verlassen(d)e Kinder" gibt. Es kommt nicht viel Neues dazu. Die Gesichter der Protagonisten wechseln. Die Geschichten sind immer wieder ähnlich. Die Eltern wurden abrupt von heute auf morgen verlassen, ohne Angabe von Gründen. Die Eltern sind sich "keiner Schuld bewusst". Der allergrößte Wunsch ist zu wissen, WARUM das alles so gekommen ist. Der Weg, den sie beschreiten müssen ist jener, mit einer riesigen Leerstelle im Leben fortan zurecht kommen zu müssen. "Es sei schlimmer, als der Tod des Kindes, denn dann könne man abschließen und dann habe man einen Ort, an den man die Trauer tragen könne."
Ist das wirklich Ernst gemeint? Ich würde meinem Kind, WAS ICH JA ÜBER ALLES LIEBE, den Tod wünschen, nur damit ich mit  meinen eigenen Verletzungen besser (über)leben kann??? Ehrlich? Dann verstehe ich sofort, warum diese Kinder gegangen sind, ohne die konkrete Geschichte dahinter zu kennen. Wenn ich jemanden wirklich über alles liebe und er-sie der Meinung ist, besser ohne mich auszukommen, dann lasse ich ihn-sie ziehen... ♡  DAS ist Liebe für mich!
Das bedeutet nicht, dass man nicht nach einiger Zeit der Trennung behutsam Versuche der Annäherung starten kann. Es bedeutet, dass ich den anderen ziehen lasse, soweit er-sie das möchte, ohne ihm-ihr für mein eigenes Seelenheil den Tod wünschen zu müssen.
Auf der Kinderseite sieht es bei neuen Beiträgen noch dürftiger aus. Da muss man erstmal jemanden finden, der sich für diese Prüfung öffentlich zur Verfügung stellt. Schnell werden der Kinderseite Egoismus und Undankbarkeit entgegen geschmettert. Dass wenig handfest zu benennende Gründe vorliegen, sondern einfach oftmals eine diffuse zu-enge oder auch eine unterkühlte Beziehung oder einzelne Vorkommnisse, die zwar nicht in den Bereich der Straftat, aber durchaus in einen Bereich großer Verletzung fallen, macht die Sache nicht einfacher.

Unterm Strich steht jedoch: Irgendwas war los. Es war definitiv NIE NICHTS. Längere Zeit, oft die ganze Kindheit und Jugend lang, hat es in den Kindern gearbeitet und gegärt. Sie haben immer wieder versucht, sich Gehör zu verschaffen und gesehen zu werden. In der Summe sind die meisten Versuche damit gescheitert. Einzelne NEINs oder SPÄTER! bringen es nicht auf diese Auswirkungen. Irgendwann - wenn sie es schaffen! - machen diese Kinder bei diesem Spiel nicht mehr mit. Sie lösen sich plötzlich und sehr schmerzhaft (für beide Seiten übrigens!) von ihren Eltern, weil es anders nicht geht. Der Versuche waren es zu viele... 

Die Anzahl derer, die es nicht schaffen, ist vermutlich weitaus höher. Wie jener Fall:  Die 70-jährige Tochter brachte ihre über 90-jährige Mutter zur Hörgeräteversorgung zu uns. Erst war die betagte Dame im Rollstuhl immer betont freundlich. Doch die Maske war dünn und bröckelte beizeiten. Die darunter spürbare Kälte und Unberechenbarkeit lies selbst Außenstehende frösteln. Die Tochter erzählte dann mal zwischendurch (Mutter hörte ohne Geräte nix), wie schwierig für sie und ihre Geschwister die Betreuung und Pflege und der Umgang mit ihrer Mutter ist. Ich sah die betagte, herrische Frau und ihre bemühte, aber resignierte Tochter, die durchhielt, weil sich ihre Mutter am deutlich kürzeren Ende des Lebens befand...
Oder: Eine Freundin von mir (die liebe M. 🐑🐑🐑) hat von ihrer Kindheit eine Dissoziative Identitätsstörung davon getragen - also die Höchsstrafe und damit höchste Stufe meiner eigenen Traumafolgeerkrankung! Sie pflegt ihre Mutter bis heute und erträgt mehr oder weniger ohnmächtig ihre toxische Nähe aufopferungsvoll. 

Warum machen sich die Eltern nicht auf den Weg? Wieso verharren sie in ihrer Opferrolle?
Einige machen sich durchaus auf den Weg. Eine Mutter verstand, dass ihr Verhalten gegenüber ihrer Tochter mit ihrer eigenen Tochterbeziehung zur Mutter zu tun hatte. Das Verstehen rings um vererbte Kriegstraumata, brachte Milde und Abstand in die eigene verfahrene Situation hinein.
Eine andere begann gar, Psychologie zu studieren. Über das Erlernen des Zusammenspiels und der Funktionenen in der menschlichen Psyche, sowie um Verstrickungen, die zwischenmenschliche Beziehungen mit sich bringen, begann sie eigene Themen aufzuarbeiten. Ich stimme zu: DAS ALLES bringt die Kinder noch nicht wieder. Eine klare WENN - DANN - LOGIK funktioniert hier nicht. Aber es ist ein möglicher Weg zum eigenen Seelenfrieden OHNE den Kindern den Tod wünschen zu müssen.

Nun bin ich selbst ja etwas anders an die Sache heran gegangen, weil ich es "besser" machen wollte, als viele andere.
Ja, ich brach den Kontakt zunächst ab, um mich überhaupt bzgl. meiner Flashbacks behandeln lassen zu können. Nach einem Jahr jedoch legte ich die Gründe für meinen Kontaktabbruch dar und bot ein Gespräch mit Hilfe einer Mediatorin an. Damit habe ich quasi als "Wünscheerfüller" fungiert: Meine Eltern wussten um die Gründe und ich habe ein Kontaktangebot erstellt.
Das Ergebnis war Ende August 2017 NICHTS... Mit soviel nichts muss man erstmal klarkommen!
Der Brief, in denen ich beiden Eltern meine Gründe darlegte, war keinesfalls nur anklagend geschrieben. Ich habe auch Dinge benannt, an die ich schöne Erinnerungen habe. Ich habe Verständnis für die ihre Situation gezeigt und mich über kleine Veränderungen erfreut, welche sich in diesem ersten Jahr ergeben hatten. (zB. hatte sich meine Mutter eeendlich einen kleinen Schrebergarten zugelegt - ein jahrzehntelanger Wunsch von ihr, aber mein Vater stets boykottierte)

Heute frage ich mich nach wie vor:
Bin ich herzlos?
Bin ich egoistisch?
Schaue ich nur auf mich?
Bin ich undankbar?
Was hätte ich besser machen können?

Tatsache ist: Ich stecke fest.
Auf der Suche nach Liebe und Anerkennung meiner Eltern zu mir.
Auf der Suche nach eigener Identität.
Und auf der Suche nach der Antwort, warum meine Eltern das Gespräch 2017 abgelehnt haben...
(Im Zeitraum von bis zu einem Jahr danach war immernoch die leise Hoffnung, dass sie sich melden, da sie das Angebot zu überrascht oder übereilt abgelehnt haben und die Chance nun doch noch wahrnehmen wollen. 2022 sind 5 Jahre vergangen. Ich habe aufgegeben zu warten. Der Graben ist nun derart breit und tief, dass ich da zur eigenen Sicherheit nun auch nicht mehr drüber will.)

Es wird mir bestimmt auch in Zukunft immer wieder begegnen, dass ich schaue, was es Neues zur Thematik gibt. Nächtelang werde ich nach Artikeln und Videos suchen, sie lesen, anschauen und darin nach Gründen für das WARUM suchen. So wie letzte Nacht. Es wurde längst wieder hell, als ich endlich versuchte zu schlafen.

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