Verlassende Enkel

Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Regen zieht in langen Fäden vom Himmel. Die Lichter der Stadt flimmern unten im Talkessel. Ich stehe mit meinem Auto auf einer Anhöhe über der Stadt und lasse das Glitzern auf mich wirken. Irgendwann greift das ganze Geglitzer auch auf meine Augen über; Tränen schwimmen nun darin.
Ich bin traurig über den Fortgang meiner Familienbiografie... Muss das wirklich alles so sein? (Wahrscheinlich ja - anders geht es offenbar nicht.)

Die Schule meiner Tochter hatte einen Aktionstag zur Suizidprävention. Dazu bekam sie ein Info- & Arbeitsheft in die Hand. Die Arbeitsblätter darin wurden an diesem Tag ausgefüllt. Ich durfte das Heftchen lesen. Unter anderem stand auch darin, dass sie sich Sorgen um mich und meine Gesundheit macht und (als recht neutralen Stichpunkt) "Kontaktabbruch Großeltern". Nun dachte ich, sie meint meine Abgrenzung. Aber nein, sie meinte ihren Kontakt. Ohnehin war der Kontakt in dern letzten Zeit altersgemäß sehr dünn geworden. Natürlich geht sie lieber mit ihrem Freund auf den Rummel (Kirmes), selbst wenn Oma bei Besuch mit ihr alles bezahlen würde...
Aber auch sonst macht sie sich um Vieles heute andere Gedanken, als vor 7,5 Jahren - dem Zeitpunkt meines Kontaktabbruchs.

Also sprachen wir ziemlich lange darüber. Für und Wider, Gründe und über das Wie der Formulierung.
Ich schrieb einen Entwurf und sie schrieb ihn nochmal etwas um. Dann steckten wir ihren Brief in einen Umschlag und ich brachte ihn noch gestern Abend zum Briefkasten. Heute werden sie ihn lesen...

Wieder einmal eine Stunde Null.

Mein Mann hat den Kontakt zwar nicht aktiv untersagt, beschränkt es jedoch auf das absolut Notwendigste.
Nun ist nur noch mein Sohn das Bindeglied zwischen beiden Familien. Eine große Last. Das ist mir bewusst. Und es tut mir leid, es ihm auferlegt zu haben...

Meine Entscheidung war damals, dass beide Kinder den Kontakt halten dürfen, aber nicht müssen. Daran hat sich nichts geändert...

Traurig ist es dennoch. Weil nicht offen über alles gesprochen wurde. Weil nicht genug Mut da war...
So sind die Folge von verlassenden Kindern, verlassende Enkel. Selbst das trägt sich von Generation zu Generation weiter, wenn nicht unterbrochen wird.

...so wische ich mir die letzte Träne aus dem Knopfloch und nehme meine Kapuze wieder vom Kopf, in die ich mich eingekuschelt hatte. Ich lege den Gang ein, setzte den Blinker und fahre wieder nach Hause. Ich versuche tapfer zu bleiben und weiter zu machen.
Der Himmel jedoch weint weiter...

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