Brief an meine Mutter
An meine Mutter - eine Woche nach Deinem Überfall:
Ich glaube Dir, dass Du spontan entschieden hast. “Jetzt oder nie!”, wird wohl der Aufruf in Dir gelautet haben. Du warst wie im Rausch - warst vielleicht auch nicht ganz und gar Herrin Deiner eigenen Worte. Du warst ganz bei Dir und Deinem Mann - das war das Zentrum Deiner vielen Gedanken, welche sich, gleich einer geborstenen Staumauer, nun ihren Weg bahnten…
Aber wo war ich dabei? Physisch war ich vor Dir - Du hast diesen Fakt dauernd durch Zupfen an meinem Arm und durch herbeigefragte Umarmungen überprüft.
Aber wo war ich als eigenständiges, menschliches Wesen mit eigenen, äußeren Grenzen und einem Innenleben, welches nicht das Deine ist? Mir sagte einmal eine “Zauberfee” erschrocken: “Sie haben ja gar kein Selbst!”. Ich wusste über Jahre nicht, was sie damit gemeint hatte. Gestern verstand ich spontan: “Ich bin das erweiterte Selbst von Dir und meinem Vater! Daher habe (oder vielleicht hatte) ich bislang tatsächlich kein eigenes Selbst.
Du nimmst mich nach wie vor gar nicht richtig wahr. Ich bin weiterhin so etwas wie ein Ding oder eine Sache…
Du führst an, mein Kontaktabbruch 2016 und die Angabe meiner Gründe dafür aus dem Sommer 2017, haben Dich und Vater schwer getroffen. Sie haben Euch den Boden unter den Füßen weggezogen und insbesondere meinen Vater sehr krank gemacht.
Du nimmst hingegen nicht wahr, was die Ablehnung des Gespräches wohl mit mir gemacht haben könnte. Dann geschieht jahrelang faktisch nichts. Ab und an versuchst Du Dich hinter den Kulissen durchzuschlängeln…: bedrängst Deine Enkeltochter, an ihrer Jugendweihe teilnehmen zu können; kommst ins Haus, obwohl Du ein Verbot dazu hast… Aber sonst kommt nichts!
Kein: "Ich würde doch gerne mit Dir reden. Es geht jedoch erstmal nur ohne deinen Vater.” Vielleicht Wochen später, Monate später, oder ein bis zwei Jahre später… Nichts! Lange sechseinhalb Jahre lang geschieht nichts!!!
Doch als Deine Enkeltochter ihren Kontakt zu Euch beendet, da wirst Du aufeinmal wach! (Na, immerhin tust Du es bei ihr! Sie scheint ein Selbst zu haben, welches auch Du wahrnehmen kannst.) Du beginnst im Internet zu recherchieren und zu lesen… UND: Natürlich findest Du dort den bequemsten Ausgang, der sich Dir bietet: Die False-Memory-Bewegung Deutschland! Applaus. Weisst Du, was eine wichtige Fürsprecherin und Mitarbeiterin (Heidemarie Cammans) dieser Bewegung über Menschen, wie mich sagt? ‘Sie begeben sich wegen einer kleinen Lebensunzufriedenheit in psychotherapeutische Behandlung und dort wird dann solange nach den Gründen gesucht, insistiert und suggeriert, bis Erinnerungen an einen Missbrauch innerhalb der Herkunftsfamilie auftauchen.’ Meinen Einwand, dass ich mich vor jeglichem, therapeutischen Kontakt schon mit Flashbacks herumgeplagt habe, hast Du einfach weggewischt.
DU! Einzig Du hast wie immer recht. Du weisst, wie damals alles war… Und Du wirst es mir erklären. Wir werden uns allein treffen und dann löst Du alle Verwirrungen auf, denn nur Du hast verstanden, wie sich wirklich alles zugetragen hat…
Ob mein Sohn schon ein eigenes Selbst hat, ist beinahe fraglich. Du bemerkst, dass er mittlerweile an unser beider Seite erschienen ist, aber Du besitzt nicht den Anstand und den Respekt, dieses Gespräch zu beenden. Weiter und weiter kippst Du traumatische Details, Unwahrheiten und Anschuldigungen über mir aus. Du tust dies ohne Punkt und Komma - holst kaum Luft zwischen Deinen Wortduschen. Nur mit Mühe gelingt es meinem Sohn, Dich dazu zu bringen, mal kurz inne zu halten, damit ich auch mal zu Wort komme. Ein bisschen Selbst scheint mein Sohn also doch schon zu haben, immerhin bist Du für seine Einwände gerade noch so zu erreichen!
Ich schwankte mehr und mehr. Merkte, dass ich Deinen Monolog recht bald beenden sollte, da ich meine Funktionalität nicht mehr lange aufrecht erhalten konnte. Mehr und mehr mischte sich Mitgefühl für meinen Vater und Dich in meine Gedanken: Natürlich geht es Euch nicht gut damit. Gerade deswegen habe ich mir viele Gedanken dazu gemacht und versucht, die Situation möglichst transparent, fair und geradlinig zu bearbeiten. Und ich merkte auch, wie mich dieses Mitgefühl, trotz aller Abneigung in mir, mehr und mehr in Deine Richtung zog…
Die Situation danach war offenbar jene: Du fährst mit meinem Sohn davon und machst Dir (in Deinen Augen berechtigte) Hoffnungen, dass nun wieder Kontakt zu meiner Tochter und mir zustande kommt. In ein paar Wochen oder in 2 bis 3 Monaten vielleicht.
In mir hinterlässt Dein Überfall Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer, Scham, Ekel, Überwältigung, Angst, Unsicherheit, Destruktion… Kurz: Pures Chaos!!!
Ich habe Angst, dass es von nun an wieder und wieder solche Situationen geben wird. Ich fühle mich von Dir bedroht und auch irgendwie verfolgt. Ich habe Angst, meine Funktionalität das nächste Mal nicht so gut und so lange aufrecht erhalten zu können. Ich habe Angst, einzufrieren. Ich habe Angst davor, auszurasten. Ich habe Angst davor, einzuknicken und wieder in Deinen inneren Bannkreis zu geraten…
Eigentlich habe ich nur einen einzigen und allerletzten Wunsch an Dich:
Bitte lass mich frei! Lass mich ziehen. Drehe Dich nicht mehr nach mir um. Greife und angle nicht mehr nach mir. Such mich nicht. Und wenn wir uns zufällig begegnen, dann geh an mir vorüber, wie an einer Fremden. Erst dann werde ich mich etwas sicherer fühlen können, bevor einer von uns beiden das Leben verlässt.
Deine ehemalige Tochter