Mogelpackungen gabs damals schon...

Noch halb im Dusel schnappte mein Hirn heute morgen nach einer alten Erinnerung, die vorbei flog. "Happ" - "Gefangen!"

Vorab als Einstieg - der Rahmen dazu:
1988 fand das XIII. Pioniertreffen der DDR im damaligen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) statt.
Als Nachrücker hatte ich das Glück und durfte daran teilnehmen. Ja, "durfte" und "Glück", denn in diesen Tagen hat die DDR nocheinmal alles aufgefahren, was sie eigenlich schon lange nicht mehr hatte (zumindest nicht für die breite Bevölkerung).
An einem Samstag Mitte August bestiegen tausende Pioniere aus allen Bezirken der DDR Busse und Züge, um zum Pioniertreffen nach Karl-Marx-Stadt zu fahren.
Die ersten Tage waren den sogenannten Friedensmärschen vorbehalten. Das hiess im Kleinen, dass wir auf Wanderungen unsere Heimat und Natur entdeckten. Nicht immer nur politisch, wie man erwarten könnte. Wir gingen ins Freibad, erkundeten Felsen und suchten dort nach Fossilien, lauschten spannenden Räubergeschichten oder besichtigten einen Steinbruch. Nach den Friedensmärschen im Grünen zogen wir in der Mitte der Woche in die Stadt um zu Gasteltern. Den Rest der Woche (zwischen Mittwoch Eröffnungsveranstaltung und Samstag Abschlußveranstaltung) verbrachten wir beim Spielen, Basteln, Rätseln in sogenannten Bezirkszentren, wo sich die verschiedenen "Bundesländer" der DDR sozusagen vorstellten. Es gab auch Konzerte, einen Schwimmbadbesuch mit Badfest und natürlich auch Dinge wie zB. ernste Gespräche mit Menschen, die im 2. WK Antifaschisten waren. Mittagessen und Proviantpakete für Frühstück und Abendessen erhielten wir in eigens errichteten Freiluftgaststätten. Unsere Päckchen für morgens und abends enthielten durchaus auch so seltene Dinge, wie Bananen. Das ganze Festival sollte offenbar auch den angereisten Kindern und Jugendlichen aus anderen Ostblockstaaten zeigen. Schaut her: 'In der DDR gibt es keinerlei Mangel. Wir haben es sehr gut. Das verdanken wir dem Sozialismus...'

Aufhänger für den morgendlichen Stolperstein, war jener: während die DDR tagsüber für mich und alle anderen Kinder nocheinmal in schillernden Farben vor sich hinleuchtete, kam ich in der 2. Wochenhälfte Abend für Abend in ein seltsam erstarrtes Kunstwerk zurück - meine Gastfamilie.
Ich glaube, ich musste da alleine hin. Wenn ich in meinen Erinnerungen krame, erinnere ich mich an die Angst, das Haus und die richtige Wohnung nicht zu finden. Aber vielleicht wurden wir doch abgeholt...? Wie auch immer.
Es war ein älteres Ehepaar in den frühen Sechzigern. Ob sie mal Kinder hatten, weiß ich nicht mehr. Ist aber anzunehmen, da sie in einer 3-Raum-Whg. lebten. 
Sie war offenbar schon Rentnerin (Frauen gingen nur bis 60 arbeiten und Männer bis 65) - er arbeitete wohl noch. Beide waren durch und durch Sozialisten. Sie waren stolz darauf, mir Lenins Stimme auf einer LP vorspielen zu können. Ich hoffe, ich habe damals mit genügend Interesse und Ehrfurcht zugehört. Mein Russisch reichte mit 11 Jahren keinesfalls aus, um irgendwas davon zu verstehen. Außerdem war die Tonqualität sehr schlecht - natürlich dem Zeitpunkt der Aufnahme geschuldet, aus der sie stammte.
Sie waren mehrfach auf Reisen in der Sowjetunion gewesen und zeigten mir auch Fotoalben dazu. Sind sind auf den Elbrus hochgewandert, dem höchsten Berg von Armenien. Daran erinnere ich mich besonders, da ich ein Kinderbuch hatte, welches ich mochte und zum Großteil in Armenien spielte... Sie hatten ein Auto und sehr wahrscheinlich auch einen Kleingarten. Ich meine, wir sind eine kurze Strecke Auto gefahren (kein Trabbi) und haben uns den Garten angesehen. Natürlich stand das 4-rädrige Familienmitglied in einer Garage, wenn es nicht benötigt wurde!
Alles hatte seine strenge Ordnung. Morgens, wenn ich aufstand (gegen 7 Uhr), machte sie schon Gymnastik im Flur. Danach duschte sie und machte sich fertig für den Tag. Da wir Pioniere den ganzen Tag unterwegs waren zu vielen Aufführungen und Projekten in der Stadt, bekamen wir ansonsten nur wenig mit in den Gastfamilien.
Frühstück und Abendbrot habe ich immer alleine in meinem Zimmer gegessen. Es war sehr langweilig so alleine vor sich hinzukauen. Das war der "Schnapp", den mein Hirn heut morgen im Halbschlaf machte! Das Ehepaar hätte mich ja auch zusammen mit ihnen an ihrem Tisch essen lassen können...! So war ich wieder einmal Fremdkörper. Ich wohnte dort 5 Tage lang, gehörte jedoch nicht dazu.
Der Abschied fiel mir daher sehr leicht.

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Es war also ALLES in Ordnung. Es war offenbar DIE perfekte Vorzeigefamilie dieser Zeit. Pro-russisch, Pro-DDR-Führung vom Sozialismus durchdrungen und von seinen Idealen überzeugt. Wohnung, Garten, Auto, Garage, Fernreisen... Es gab keinerlei Mangel!
Satt, warm, sicher, äußerlich versorgt und zufrieden zu sein waren DIE großen Errungenschaften dieser Generation. Aber in gewisser Kälte - menschliche Wärme war bei den Gasteltern nicht zu finden. 
Sie müssen in den 20-ern geboren sein, wie meine Großeltern. Waren bei Kriegsbeginn also ältere Kinder oder Jugendliche. Entweder sind sie "vorn" mitgelaufen beim BDM und der HJ oder sie haben sich, durch die Eltern geprägt, im Untergrund versucht gegen die herrschenden Strömungen zu stemmen. Bleibt noch die Mitte, als dritte und vielleicht wahrscheinlichste Variante - das Hauptfeld der Mitläufer. Auf jeden Fall haben sie die volle Wucht des Krieges zu spüren bekommen, an dem sie aufgrund ihres Alters wohl noch nicht aktiv von Beginn an teilgenommen haben oder zumindest erst in den letzten Zügen bei der Verteidigung. Dann trugen sie wohl das mit sich, was eine ganze Generation von ihnen trug -> nach vorne schauen, aufbauen, organisieren (einen Topf, einen Mantel, ein paar Schuhe oder 50g Fett, ein Brot, ein paar Rüben). Nicht mehr darüber sprechen! Nur nicht daran rühren. Alles Erlebte war zu schrecklich, um es je nocheinmal aufrollen zu können... Und eben Kälte. Emotional weitgehend dicht machen. Niemanden heran oder gar herein lassen, der das gut Verborgene anrühren könnte, wenn auch nur aus Versehen. Auch die eigenen Kinder durften meistens nicht "nah heran" oder gar "hinein" - die Kriegsenkel. Aufgewachsen im Wohlstand, aber häufig emotional mangelernährt...

Genau dieses ausgeschlossen sein. Nicht herein gelassen zu werden. Ein Fremdkörper zu sein und auch zu bleiben. Sich nicht willkommen zu fühlen... DAS war der Trigger heute morgen.

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